„Arme hoch, Freude, Podium“Wie Marcel Wüst aus Köln das Bergtrikot der Tour eroberte

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Marcel Wüst (r.) jubelt bei der Einfahrt ins Ziel.

  • Marcel Wüst, geboren am 6. August 1967 in Köln. In zweiter Ehe verheiratet, zwei Kinder aus erster Ehe: Alexander (21) und Oliver (14). Wüst zählt zu den erfolgreichsten deutschen Sprintern.
  • Zwölf Etappensiege bei der Vuelta und je einer bei der Tour de France und beim Giro d’Italia. Über 100 Karrieresiege. Heute Unternehmer und Chef eines Jedermann-Teams mit 200 Leuten.
  • Im Interview spricht er über die aktuelle Tour de France und seinen Erfolg von vor 20 Jahren.

Herr Wüst, die aktuelle Tour de France hat nun die erste Woche hinter sich. Schauen Sie regelmäßig zu? Ja klar, die Tour läuft bei mir täglich, ich schaue aufmerksam zu.

Wie fällt Ihr Fazit aus?

Das ist eine besondere Tour. Massenstürze auf der ersten Etappe, dazu zwei heftige Bergetappen in den ersten vier Tagen und auch zwei Bergankünfte auf den ersten sechs Etappen. Wout van Aert zum Beispiel ist für mich ein Phänomen, der junge Belgier. Der kann nicht nur am Berg arbeiten, sondern der gewinnt auch einen Massensprint. Ein geiler Typ.

Was die Gesamtwertung betrifft, sieht Primoz Roglic am besten aus, er hat mit Jumbo-Visma auch das stärkste Team um sich, van Aert gehört ja auch noch zu denen. Es ist spannend. Gefällt mir. Das ist eine richtige coole Tour diesmal.

Achten Sie auch auf denjenigen, der  das Bergtrikot trägt?

Na klar, das ist ein spektakuläres Trikot, das kannst du immer sehr gut erkennen. In der Regel ist es ja so, dass diejenigen, die es tragen, sich bei der Eroberung deutlich mehr anstrengen mussten als damals dieser clevere Kölner.

Der clevere Kölner sind Sie, ein Sprinter, der das Bergtrikot der Tour erobert hat, das ist jetzt 20 Jahre her. Das war ein großer Coup damals. Wie ist es dazu gekommen?

Die erste Etappe war ein Zeitfahren von 16,5 Kilometer Länge. Ich habe im Roadbook der Tour de France gesehen, dass da tatsächlich eine Bergwertung auf der Strecke vorgesehen war. Der Hügel heißt Côte du Jaunay Clan, vierte Kategorie, 950 Meter lang, 3,7 Prozent steil – Sprinterdistanz. Die Zeit wird unten genommen und oben gestoppt, der Schnellste bekommt das Bergtrikot. Das waren die Zutaten.

Das reifte immer mehr in meinem Kopf, bis ich mich auf diesen Plan mit 100 Prozent konzentriert habe. Wir haben am Tag zuvor die Strecke besichtigt, die anderen sind dreimal die Zeitfahrstrecke gefahren. Ich bin sie einmal gefahren und dann bin ich mindestens 20 Mal den Berg rauf und runter gefahren. Um zu schauen, wie ich um die erste Kurve fahren kann, wie weit werde ich rausgetragen. Das war zwar irre, aber auch wichtig.

Wie ist es letztlich gelaufen?

Fast vier Stunden vorher habe ich nichts mehr gegessen. Kurz vor dem Start habe ich noch zwei Espresso mit Zucker getrunken – und dann bin ich rauf auf die Rampe, mit meinem normalen Rennrad. Erst oben am Berg bin ich auf die Zeitfahrmaschine umgestiegen. Ich war vor dem Start eines Rennens noch nie so konzentriert, ich hatte die Strecke visualisiert, ich wusste, es sind 2,5 Kilometer bis zum Beginn der Bergwertung. Da war ich sofort maximal am Anschlag.

Nach 25 Sekunden begannen die Schmerzen. Mir tat alles weh. Ich habe gekämpft und gebissen wie ein Besessener. Oben habe ich auch noch den klassischen Sprinter-Tigersprung gemacht. Ich hatte einen Puls von 200. Ich war voll paralysiert vom Laktat. Und habe aufgehört zu treten. Auf einmal wurde mir klar: Es ging ja weiter. Also Radwechsel. Weiterfahren. Aber fahr mal weiter mit Beinen und Armen voller Laktat. Ich wurde sogar noch überholt. Ich habe es aber irgendwie ins Ziel geschafft.

Sie wurden im Ziel mit Bestzeit am Berg gemeldet...

Ich konnte nichts anderes tun als mich in den Bus setzen und warten. Das Warten fiel mir sehr schwer. Ich war total nervös. Ich hatte keinerlei Orientierung. Ich habe unseren Masseur immer rausgeschickt um zu fragen, wie es denn mit der Bergwertung steht. »Immer noch Wüst vorne«, haben sie dem gesagt. Auf einmal klopfte es an der Tür, es war jemand vom Veranstalter, ich sollte rauskommen zur Siegerehrung. Bergtrikot abholen. Es hatte tatsächlich geklappt.

Nicht nur das, Sie trugen das Bergtrikot insgesamt vier Tage, so lange wie bisher kein anderer deutscher Fahrer – und das als Sprinter.

Die Tour ging weiter mit der zweiten Etappe – keine Bergwertung. Dritte Etappe: keine Bergwertung. Vierte Etappe: Mannschaftszeitfahren – keine Bergwertung. Auch auf der fünften Etappe durfte ich das Bergtrikot noch tragen und habe dafür 1:19 Minuten beim Zeitfahren investiert. Das ist schon geil.

Ihre Traumreise durch Frankreich ging noch weiter: Sie gewannen die fünfte Etappe im Sprint mit Ihrem Bergtrikot in Vitré. Wie lief das damals?

Das war mein letzter Tag im Bergtrikot. In Vitré habe ich Erik Zabel im Sprint geschlagen, der sich damals als deutscher Sprint-Platzhirsch empfunden hat. Das war mir aber egal, ich hatte ihn in jenem Jahr schon häufiger versägt, mir ging es nur darum, eine Etappe zu gewinnen, egal gegen wen. Für den Zabel war es schlimm, gegen diesen anderen Deutschen verloren zu haben, das wird ihn sehr gewurmt haben.

Ich hatte vorher ja schon zwölf Etappen bei der Spanien-Rundfahrt und eine Tageswertung beim Giro d’Italia gewonnen. Aber das hier, ein Etappensieg bei der Tour, war der Einzug in den Olymp. Davon habe ich als kleiner Junge geträumt. Der Moment, als ich wusste, ich kann nicht mehr eingeholt werden, war der größte Augenblick für mich. Danach: Arme hoch, Freude, Podium. Ich war endgültig ein Weltklassesprinter. Weltweiter Durchbruch mit 32 Jahren.

Zwei Tage später wurden Sie schon wieder dekoriert, diesmal stilecht mit dem Grünen Trikot.

Es ging immer weiter. Das war der Wahnsinn, was das für eine Tour für mich war.

Die Tour konnten Sie allerdings nicht zu Ende fahren. Was war passiert?

Ich hatte mir einen Infekt eingefangen. Ich habe es noch bis zum ersten Ruhetag nach der elften Etappe geschafft. In der Nacht hatte ich Fieber bekommen. Da machte es dann keinen Sinn mehr, weiterzufahren. 

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Dieser Radsportsommer mit den vielen Höhepunkten nahm aber kein gutes Ende für Sie. Wie ging es weiter?

Da war alles drin in diesem Sommer. Ich war noch im »Aktuellen Sportstudio«, da habe ich zweimal an der Torwand getroffen, einmal oben und einmal unten. Dann hatte ich einen schweren Unfall auf dem Rad, Sturz am 11. August in Issoire, Frankreich, da bin ich mit dem Franzosen Jean-Michel Thilloy bei Tempo 60 kollidiert. Ich habe in der Folge mein rechtes Auge verloren. Ich schwebte zeitweise zwischen Leben und Tod. An eine Fortführung der Karriere war nicht mehr zu denken. Mit einem Auge als Sprinter – das ging nicht mehr.

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