Tim Borowski über die WM 2006„Das war ein sensationeller Sommer“

Tim Borowski (r.) und Torsten Frings jubeln nach dem Viertelfinal-Triumph über Argentinien bei der WM 2006.
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Herr Borowski, woran denken Sie auf Anhieb, wenn Sie sich an die WM 2006 in Deutschland erinnern?
Tim Borowski: An pure Euphorie, einen sensationeller Sommer, ein tolles Turnier, sehr gute Gastgeber.
Löst es heute noch etwas bei Ihnen aus, wenn Sie „Dieser Weg“ von Xavier Naidoo hören?
Borowski: Wir haben das vor jedem Spiel im Bus oder in der Kabine gehört. Natürlich weckt das positive Erinnerungen, keine Frage.
Nach der WM hat Naidoo in seinem Lied „Danke“ die ganze Mannschaft gewürdigt. Wenn Sie an diesen Sommer zurückdenken – war es das größte Erlebnis Ihrer Karriere?
Borowski: Der Doublesieg 2004 mit Werder Bremen war ähnlich toll, aber im Ausmaß natürlich nicht so groß. Ja, doch, insgesamt kann man sagen, die WM 2006 steht ganz oben.
Was haben Sie als Spieler von der riesigen Begeisterung im Land mitbekommen?
Tim Borowski (34) ist ein ehemaliger Fußballspieler. Er war für Werder Bremen und den FC Bayern München aktiv. Für die deutsche Nationalelf bestritt Borowski 33 Länderspiele (2 Tore). Er gehörte beim Confed-Cup 2005, bei der WM 2006 und bei der EM 2008 zum DFB-Kader.
Mit Bremen gewann Borowski im Sommer 2004 das Double aus Meisterschaft und Pokalsieg. Im September 2012 beendete er seine Karriere wegen anhaltender Probleme am rechten Sprunggelenk. Seit Januar 2013 absolviert Borowski eine Management-Ausbildung bei Werder Bremen. (sag)
Borowski: Relativ wenig. Wir waren ja recht abgeschottet in Berlin im Schlosshotel im Grunewald. Aber ab und zu habe ich mir abends ein Auto genommen und bin einfach durch die Stadt gefahren, um die Stimmung ein bisschen aufzusaugen und zu erleben. Ich saß dann auf dem Kurfürstendamm etwas versteckt in einem kleinen Café. Das war im positiven Sinne ein Ausnahmezustand. Es gab ja selbst in den kleinsten Dörfern Autokorsos und After-Match-Partys. Das war wirklich Weltklasse.
Sie standen in jedem wichtigen Spiel auf dem Platz. Wie war das als Mittelfeldmann neben Michael Ballack? Er war der Chef auf dem Feld…
Borowski: Es war eine gute Zeit. Im Auftaktspiel habe ich ihn ja vertreten, das war natürlich ein überragendes Erlebnis, vor etwa 1,5 Milliarden Zuschauern ein Eröffnungsspiel zu bestreiten und dann 4:2 gegen Costa Rica zu gewinnen. Zusammen haben wir im Mittelfeld – Ballack, Torsten Frings, Bernd Schneider und ich – während des Turniers versucht, die Mannschaft zu führen und vorwegzugehen.
War man neben Ballack gleichberechtigt?
Borowski: Er ist voranmarschiert, hat sich geopfert. Das war schon gut, ich habe viel gelernt von ihm. Wir sind ja grundsätzlich mit Frings und Ballack ins Turnier gegangen. Dann kristallisierte sich heraus, dass ich öfter für Bastian Schweinsteiger gespielt habe, und dazu eben noch Schneider. Ballack war zu der Zeit der einzige Weltstar, den wir hatten. Dementsprechend haben die Gegner reagiert, sie haben sich auf ihn fokussiert.
Ballack, Frings, Schneider – eigentlich eine Generation, die einen großen Titel verdient gehabt hätte…
Borowski: Klar, vor allem waren die so nah dran. 2002 war das mit der Final-Niederlage gegen Brasilien ja schon eine sehr traurige Geschichte. Und hätten wir 2006 im Halbfinale gegen Italien alle Spieler an Bord gehabt, wären wir, so glaube ich, Weltmeister geworden. Aber klar, das ist hypothetisch. Insofern war es eine wundervolle WM – aber der Titel fehlt trotzdem.
Wie war die Stimmung innerhalb der Mannschaft während des Turniers? Jürgen Klinsmann ist ein Trainer, der sehr viel Wert auf Teamgeist legt.
Borowski: Das Projekt „WM 2006“ hat ja nach der Europameisterschaft 2004 begonnen. Klinsmann hat dann viele neue Ansätze implementiert, wie zum Beispiel die Fitnesstrainer aus den USA, für die er stark belächelt worden ist von den Medien. Zudem hat Klinsmann großen Wert auf Teamgeist und Willen gelegt – und hat danach auch sein Team zusammengestellt. Nicht zuletzt deshalb war es ein überragendes Turnier.
In Sönke Wortmanns Film „Sommermärchen“ ist zu sehen, wie Ballack und Teammanager Oliver Bierhoff sich über die Abschlussfeierlichkeiten streiten. Wie haben Sie das empfunden?
Borowski: Da muss man fair sein und analysieren, warum das vielleicht negativ rüberkommt. Wenn man so knapp an einem Titel vorbeischrammt und danach die Luft raus ist, dann will man einfach nur nach Hause. Bierhoffs Ansatz war aber ja auch, einfach mal „Danke“ zu sagen für die grandiose Unterstützung, die wir erhalten haben. Das war die Intention – sich nicht nur abfeiern zu lassen, sondern sich dafür auch zu bedanken. Das stellte sich als die beste Idee aller Zeiten heraus, das Fan-Fest in Berlin war einer der bewegendsten Momente meiner Karriere.
Eine Schlüsselszene war der Treffer zum 1:0 gegen Polen kurz vor Spielende. David Odonkor wird steil geschickt, flankt, und Oliver Neuville trifft. War es als Mittelfeldspieler besonders angenehm, mit Odonkor zu spielen? Eigentlich mussten Sie ihn ja einfach nur die Linie entlangschicken…
Borowski: Klar, David hat seine Rolle in diesem Turnier überragend angenommen. Er war ein Neuling, kommt rein und spielt den Assist vor dem 1:0 gegen Polen. Genau das war ja Klinsmanns Ziel, den David – mit seiner Schnelligkeit – in diesen Situationen zu bringen, um den Gegner eiskalt zu überraschen. Allein wegen dieser Vorlage gegen Polen hat sich die Nominierung von David gelohnt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite weiter:Tim Borowski über das Viertelfinale gegen Argentinien, die Halbfinal-Pleite gegen Italien und die Chancen der deutschen Elf in Brasilien
Wie haben Sie die Handgreiflichkeiten nach dem Viertelfinal-Sieg im Elfmeterschießen gegen Argentinien in Erinnerung?
Borowski: Ich habe mich dezent zurückgehalten. Ich habe das erst gar nicht mitbekommen, denn eigentlich sind wir ja alle im Vollsprint zu Jens Lehmann gelaufen. Nur Per Mertesacker war zu langsam und ist einfach nicht hinterhergekommen (lacht) – nein, im Ernst, Per wurde dann ja von den Argentiniern attackiert und dann kam es zu diesen Tumulten.
Haben Sie darüber in der Kabine noch gesprochen?
Borowski: Man kann im „Sommermärchen“ ja ganz gut sehen, dass wir in der Kabine ein wenig mit stillem Wasser und zu gutem Fußballgesang gefeiert haben.
Wir müssen leider auch kurz über das Halbfinale sprechen. Beim Gegentor in der 117. Minute waren Sie schon auf der Bank. Können Sie sich noch daran erinnern, was Ihnen in den Augenblicken von Fabio Grossos Tor zum 1:0 für Italien durch den Kopf gegangen ist?
Borowski: Ich habe mir das Tor im Nachhinein mal angeguckt – das war nebenbei bemerkt schon gar nicht so schlecht gemacht. Aber es war einfach wie ein Albtraum, den man durchlebt. Eine Sache, die man nicht wahrhaben möchte. An diesem Spiel haben wir mental alle zu knabbern gehabt. Die Italiener haben im ganzen Turnier durchwachsen gespielt, gegen uns dann aber ihre beste Leistung abgerufen. Da muss man Respekt zollen – schlussendlich sind sie verdient Weltmeister geworden.
Wie sieht es in diesem Sommer aus – welche Chancen hat die deutsche Mannschaft in Brasilien?
Borowski: Puh, das ist schwer zu sagen. Wir haben so viele angeschlagene Spieler und Langzeitverletzte. Bei Philipp Lahm muss man sich keine Gedanken machen, der ist einfach ein Weltklasse-Spieler und ist schnell wieder fit. Aber Khedira und Schweinsteiger waren lange verletzt, deswegen ist schon alles davon abhängig, wie fit sie werden, weil sie Schlüsselspieler sind. Trotzdem gehört die deutsche Mannschaft zum Favoritenkreis.
Wie beurteilen Sie die zuletzt harte Kritik an Mesut Özil?
Borowski: Grundsätzlich ist er ein überragender Spieler, der sehr sensibel auf seine Umwelt reagiert. Gerade fehlt mir bei ihm ein wenig die Frische, er wirkt ein bisschen überspielt. Man sollte ihm aber die Zeit geben, sich in der Vorrunde zu beweisen. Er war bei Real Madrid eine Führungsperson, auch in London lief es ordentlich. Aber Mesut spielt seit seinem 17. Lebensjahr quasi komplett durch, es wird schon sein drittes großes Turnier. Hinzu kommt der Druck der Öffentlichkeit, dass er ein Führungsspieler sein soll. Vielleicht ist das alles ein bisschen viel gerade. Trotzdem ist er ein überragender Spieler und ich glaube, er wird eine gute WM spielen.
Das Gespräch führte Philip Sagioglou