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Gewalt an GrundschulenKölner Projekt will Abhilfe schaffen

Lesezeit 6 Minuten
Drei Jungs sitzen an einem Tisch und unterhalten sich freundlich.

Auch Jungen haben ein Recht auf Beratung: Beim SKM Köln erhalten Jungs Hilfe und neuerdings auch Anti-Gewalt-Workshops.

Eine neue Fachberatungsstelle des SKM Köln bietet Anti-Gewalt-Trainings für Jungs an Grundschulen an.

Aus Jungen werden Männer. Mit all ihren Vorzügen, Macken – und gesellschaftlichen Kosten: Aufgrund ihres schädigenden Verhaltens belasten Männer die Staatskasse pro Jahr mit 63 Milliarden Euro mehr als Frauen. Verkehrsunfälle, Diebstähle, Hooliganismus, Wirtschaftskriminalität oder Spiel- und Drogensucht – Männer führen sehr deutlich alle traurigen Statistiken an.

Das hat der Wirtschaftswissenschaftler, Männer- und Jungenberater Boris von Heesen errechnet. In seinem Buch „Was Männer kosten. Der hohe Preis des Patriarchats“ nennt er auch eine Hauptursache: „Rollenstereotype, die uns von klein auf prägen.“

Von wegen immer stark und mutig

Diese stereotypen Rollenbilder suggerieren Männern von Kind an, wie sie sich (vermeintlich) als Mann zu verhalten haben: Sie müssen funktionieren, der Fels in der Brandung, immer stark, mutig und gesund sein, dürfen keine Verletzlichkeit zeigen und keine Gefühle. Hilfe holen ist tabu ebenso wie über Probleme und Emotionen zu reden.

Dass diese stereotypen Rollenbilder auch im 21. Jahrhundert noch sehr wirkmächtig sind, erfahren die Mitarbeitenden des Sozialdienstes katholischer Männer (SKM) alltäglich in ihren Familienzentren, Jugendeinrichtungen und Beratungsstellen. Und sie erleben auch, dass Jungen heute „Verhaltensweisen, wie den Drang nach Bewegung, sich auf spielerische Art in Wettbewerben zu messen, sich auch mal lautstark auseinanderzusetzen, wilder zu sein, aus unterschiedlichen Gründen weniger ausleben können als ihre Väter, Opas und Urgroßväter“, sagt Tobias Latz, Sexualpädagoge, Männer- und Jungenberater beim SKM Köln.

Soziale Medien verstärken überholte Rollenbilder

Jungen hätten zudem kaum Räume, um über Geschlechterrolle nachzudenken, kaum männliche Vorbilder im wahren Leben – dafür immer mehr in den Sozialen Medien, „wo tradierte Männerbilder nach oben gespült und wahrgenommen werden, die aufgrund einer provokanten Haltung viele Klicks bekommen“, sagt Latz.

Daher sei es auch nicht weiter verwunderlich, dass Kinder, die in der Kita oder in der Schule negativ auffallen, überwiegend männlich sind. Überwiegend männlich sind auch Schulabbrecher und Gewalttäter. Dem präventiv, also vorbeugend entgegenzuwirken, frühzeitig zu verhindern, dass „Jungs von heute eine toxische Männlichkeit mit negativen Folgen für die Männer von morgen entwickeln“, ist Ziel eines neuen Grundschulprojekts des SKM, das Tobias Latz und Antigewaltberater Klaus Schmitz seit vergangenem Schuljahr mit finanzieller Unterstützung von „wir helfen“ zunächst an einer Mülheimer Grundschule anbieten.

Mit unseren Workshops möchten wir verhindern, dass Jungs von heute eine toxische Männlichkeit mit negativen Folgen für die Männer von morgen entwickeln
Tobias Latz, Sexualpädagoge, Männer- und Jungenberater beim SKM Köln

Künftig soll das Präventionsprojekt, das sich speziell an Jungen der vierten Klassen richtet, auf weitere Grundschulen im Kölner Stadtgebiet ausgeweitet werden. „In unseren Männer-Krisenberatungen haben wir erfahren, dass wir viel früher ansetzen und schon bei kleinen Kindern klassische Rollenbilder aufbrechen müssen, um toxische, gewalttätige Entwicklungen zu vermeiden“, sagt Jörn Unterburger, Sachgebietsleiter „Soziale Beratung und Betreuung“ beim SKM Köln.

Gewalt an Grundschulen nimmt merklich zu

Grundschulen seien der ideale Ort dafür. Denn hier würden Kinder zum ersten Mal auf sehr festgelegte Strukturen treffen. „Nicht selten sind die dort aufgenommenen Kinder mit ihren Familien erst seit kurzem in Deutschland, verstehen und/oder sprechen die deutsche Sprache noch nicht. Jungs definieren sich schon in diesem Alter oft über Kraft, Lautstärke und Bewegungsdrang.“

Dieses normale Verhalten stoße in der Schule oft auf Widerstand. Besonders schwierig würde es dann, wenn es an einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Verhaltensgrundlage fehlt. „Die Ausübung von physischer wie psychischer Gewalt spielt leider gehäuft schon an Grundschulen eine große Rolle“, sagt Latz. Auf diese Art der Gewaltausübung, die bei den Opfern nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schäden hinterlässt, soll das Projekt präventiv einwirken, aber auch aktuelle Gewaltvorfälle im Schulalltag aufgreifen – und bearbeiten.

Gewaltfreie Verhaltensweisenlernen und ausprobieren

In den Workshops geht es deshalb vor allem darum, schon sehr früh Stereotype herauszufordern und zu hinterfragen. Auch sollen Grundschülern, die zu gewalttätigem Handeln neigen, die Folgen ihres Verhaltens für die Opfer aber auch für sich selbst eindringlich verdeutlicht werden. „Wir versuchen, die Ursachen für das jeweilige gewalttätige Handeln herauszufiltern, um es zu minimieren, im besten Fall zu beseitigen“, sagt Klaus Schmitz.

Dreh- und Angelpunkt unseres präventiven Ansatzes ist, dass wir die Würde und den Wert jedes einzelnen Kindes betonen. Eine Schulkultur, die den Wert jedes Kindes betont, stärkt das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität
Klaus Schmitz, Antigewalttrainer beim SKM Köln

Vor allem aber können die Jungs im Rahmen der Workshops alternative, gewaltfreie Verhaltensweisen ausprobieren und erlernen. Was heißt es für mich, Junge zu sein? Was tut mir gut – und wie stärke ich das? Wie schaffe ich es, Gefühle zuzulassen – und Worte dafür zu finden? Wie erkenne ich eigne und fremde Grenzen – und wie akzeptiere ich sie? Wie gehe ich mit Konflikten um – und lasse dabei die Faust in der Tasche? Schließlich geht es auch darum, zu akzeptieren, dass Mädchen und Frauen gleichberechtigt sind und dass es eine enorme menschliche Vielfalt gibt.

Die Würde jedes einzelnen Kindes betonen

Es geht um Gewalt in Beziehungen, Selbstakzeptanz und Selbstliebe, darum, dass Jungen Ohnmacht und Trauer auch jenseits des Sports erleben und fühlen dürfen, um Misserfolge und dass man daran wachsen kann. „Dreh- und Angelpunkt unseres präventiven Ansatzes ist, dass wir die Würde und den intrinsischen Wert jedes einzelnen Kindes betonen. Denn diese Perspektive bildet die Grundlage für eine effektive Gewaltprävention an Schulen. Eine Schulkultur, die den Wert jedes Kindes betont, stärkt das Gemeinschaftsgefühl und die Solidarität“, sagt Schmitz, der erfahren hat, dass Schüler, die sich als Teil einer wertschätzenden Gemeinschaft fühlen, weniger geneigt sind, Gewalt anzuwenden, um die Gemeinschaft nicht zu schädigen.

„Diese präventiven Angebote sind bitternötig, denn an den Schulen brennt es, was die steigende Gewaltbereitschaft betrifft“, sagt Schmitz – und zitiert aus der aktuellen Umfrage des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) zu Gewalt an Schulen in NRW, die zeigt: In Nordrhein-Westfalen kommen körperliche Übergriffe an Schulen häufiger vor als im bundesweiten Durchschnitt. „73 Prozent der Schulleitungen in NRW berichten, dass es in den vergangenen fünf Jahren zu Fällen kam, in denen Lehrkräfte direkt beschimpft, bedroht, beleidigt, gemobbt oder belästigt wurden. Noch gravierender ist die Diskrepanz bei körperlichen Übergriffen: 43 Prozent der Schulen in NRW meldeten solche Vorfälle, während der Bundesdurchschnitt bei 35 Prozent liegt“.

Mehr Angriffe auf Lehrkräfte in NRW

Die Umfrage zeigt, dass Gewalt zu 97 Prozent von Schülerinnen und Schülern ausgeht. Psychische Gewalt und Cybermobbing werden häufig auch von Eltern verübt. Besonders direkte psychische Gewalt trifft Lehrkräfte zu 70 Prozent durch Schülerinnen und Schüler.

Das SKM-Projekt richtet sich in erster Linie an Grundschüler der vierten Klasse, für die das SKM-Team „als Ratgeber, Begleiter, Vermittler, Übersetzer, Verstärker und Identifikationsbilder zur Verfügung steht“, sagt Latz und sein Kollege Klaus Schmitz ergänzt: „Wir machen uns für sie stark, damit sie im Leben stark werden – stark im Sinn von selbstbewusst und identitätssicher.“ Zielgruppe Nummer zwei sind Lehrkräfte und Eltern, die in einer Informationsveranstaltung über das Thema, die Ziele und die Vorgehensweise des Projekts informiert werden – damit Hänschen lernt, was Hans nicht mehr lernen braucht!