PräventionKeine Angst vorm Schwarzen Mann

Was in der Pause nervt? Da findet jeder der Bickendorfer Schüler eine andere Szene auf dem Präventions-Plakat.
Copyright: Bilder: Arton Krasniqi Lizenz
Köln – „Nebulös“ – auf dieses Wort besteht Jochen Weidenbusch, wenn er die Umstände beschreiben soll, die das Unbegreifliche an der Odenwaldschule möglich machten. Weidenbusch war zwölf Jahre alt, als seine Eltern ihn Anfang der 70er Jahre auf das Internat schickten. Bis zu seinem Abschluss wurde er von drei Lehrern systematisch missbraucht. Heute ist er Vorstand von „Glasbrechen“, einem Verein für Betroffene. Mehr als ein Dutzend Täter und 200 weitere Opfer aus der Zeit des Schulleiters Gerold Becker sind ihm namentlich bekannt. „Wir schätzen aber, es sind mehr als 500.“
Ein Massen-Missbrauch, der in Gemeinschaftsduschräumen, Schlafsälen und beim Zelten stattfand. Und der dennoch über Jahrzehnte unentdeckt blieb. Die anderen Lehrer ignorierten die Grenzverletzungen, die öffentlich zutage traten: das Streicheln über den Kopf, das häufige Umarmen.
Und die betroffenen Kinder? Ihre Peiniger wählten sie meist als Mitglieder für ihre Internatsfamilien. Gemeinsames Duschen war pädagogisch erwünscht. Als Kind sei man von den Tätern schleichend in eine unwirkliche Realität verschoben worden, sagt Weidenbusch. „Bis du gar nicht mehr weißt, was eigentlich normal ist. Du bemerkst den Missbrauch erst, wenn es zu spät ist.“ Erst als die Schmerzen kamen, habe er realisiert: Das kann nicht richtig sein. Doch dann sei die Scham bereits zu groß, um sich zu öffnen, auch anderen Kindern gegenüber.
Die ARD zeigt einen neuen Spielfilm zu den Missbrauchsfällen an der Odenwaldschule: „Die Auserwählten“ läuft am kommenden Mittwoch, 1. Oktober, um 20.15 Uhr.
Neben dem Präventions-Plakat wurden an den Bickendorfer Grundschulen auch Grafiken erstellt, die Kindern am Computer spielerisch ihre Rechte und Grenzen erklären und auf anderen Webseiten eingesetzt werden können. Alle Materialien stellt der Kölner Verein Zartbitter interessierten Schulen und Vereinen zur Verfügung.
Zartbitter ist eine der ältesten Kontakt- und Informationsstellen gegen sexuellen Missbrauch in Deutschland. Der Verein arbeitet auch intensiv zu jungen Themenfeldern wie Cybermobbing und sexualisierte Gewalt in neuen Medien. Zartbitter wird zu weniger als 50 Prozent öffentlich finanziert und ist auf Spenden angewiesen. Kontakt: Sachsenring 2-4, 50677 Köln; Telefon: 0221/31 20 55
Vielleicht muss man ein solches Beispiel kennen, um die Bedeutung des Plakats zu begreifen, über das sich an diesem Morgen Dritt- und Viertklässler aus der Katholischen Grundschule und der Gemeinschaftsgrundschule Erlenweg in Köln-Bickendorf beugen. Aus der Vogelperspektive ist ihr gemeinsamer Schulhof darauf zu sehen, das Blumenbeet, der orangefarbene Bauwagen, der Basketballplatz, der Kummerkasten an der Fassade. „Da bist sogar du, Frau Reichling!“, sagt Henri zu seiner Lehrerin und zeigt auf eine der Figuren.
Die Bildsprache haben die Kinder selbst erfunden. „Wir haben aufgemalt, was wir schön und was wir blöd finden“, erklärt Inés. Die mehr als 50 Kinder, die auf dem Plakat über den Schulhof wuseln, wurden von einer Illustratorin gezeichnet und stellen genau diese Szenen nach: Sie springen Seil, quatschen, lachen – die schönen Dinge. Dazwischen gibt es aber auch andere Gruppen: Ein dickes Mädchen wird gehänselt, zwei Kinder ziehen sich an den Haaren, ein Junge zieht einem Mädchen die Hose herunter.
Was am meisten nervt? Da gibt es einiges, bei dem sich alle einig sind: Die dreckigen Toiletten, auf die man einen Blick erhascht – „total eklig“. Die Hose runterziehen? Geht gar nicht. Jemanden mit dem Smartphone fotografieren, obwohl der nicht will? Cybermobbing – hier verboten. Der Junge, der einem Mädchen einen Kuss geben will, obwohl die sich wehrt? „Das darf der nicht!“, sagt Aylin. „Nur, wenn die auch will!“
Mit ihren Beiträgen haben die Kinder ihre Projektleiter oft überrascht. „Sie haben sehr genau darüber nachgedacht, was sie eigentlich wollen – und was nicht“, sagt GGS-Schulleiter Michael Müller. In Ruhe gelassen werden, zum Beispiel, sei in Zeiten des Ganztags ein besonders häufiger Wunsch gewesen. Auf dem Plakat ist deswegen auch ein Mädchen zu sehen, das beim Lesen gestört wird und energisch ihren Arm ausstreckt.
Dieses „Stopp“-Zeichen kennen die Schüler hier gut. Denn das Plakat ist bloß Bestandteil eines Schutzkonzeptes, das die Schulen seit rund einem Jahr in ihren Alltag integriert haben. Unterstützt und angeleitet werden sie dabei von dem Kölner Verein Zartbitter. Zwei Theaterstücke haben sie aufgeführt, dazu wurden CDs aufgenommen. Im Unterricht haben sie Kinderrechte durchgenommen, mal global, mal ganz lokal.
Vor allem gelten seither aber Regeln, die die Kinder mitgestaltet haben. Sie achten selbst auf ihre Einhaltung. Was sich nicht im direkten Gespräch klären lässt, wird entweder vor den Klassenrat getragen oder den Lehrern gemeldet. Die Wege sind kurz und jedem bekannt, Besprechungen häufig. „Wir schaffen Klarheit auf Ebene der Kinder“, sagt Ursula Enders von Zartbitter. Angst-Szenarien vom Schwarzen Mann, dem Kinderschreck, der auf dem Schulweg lauert, seien so nicht mehr nötig. Gleichzeitig erhielten Lehrer die Chance, sich bei der Lösung kleinerer Konflikte als vertrauenswürdig für den Ernstfall zu erweisen.
Das kostet auch die Lehrer Zeit, und Kraft, die Schulen Geld. Ein Grund, weswegen bisher nur ein Bruchteil deutscher Schulen mit Schutzkonzepten arbeiten. Das Präventions-Plakat konnte nur durch Spenden des Lion Clubs realisiert werden. „Alleine hätten wir das neben dem Unterricht gar nicht stemmen können“, sagt KGS-Schulleiterin Renate Klette. Von dem Projekt in Bickendorf sollen deswegen auch Dritte profitieren: Zartbitter stellt die Materialien jetzt auch anderen Schulen zur Verfügung.
In Bickendorf jedenfalls scheint das Vertrauensverhältnis zu stimmen. „Zur Klette“, sagt Henri, könne man mit einem Problem immer gehen. „Und nach einer Woche ist alles wieder gut!“