Übergang Schule-BerufStrenge Erziehung in der zweiten Familie

Rosaria K. (v. l.) Jessica R. und Sylvia F. in der Holzwerkstatt.
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Köln – Schule? Das war für Jessica R. (Namen der Jugendlichen leicht verändert) immer „wie ein großes, schwarzes Loch“. Die Trennung ihrer Eltern und damit verbundene Ortswechsel führten bei der heute 18-Jährigen dazu, dass sie bis zum 16. Lebensjahr bereits dreimal die Einrichtung wechseln musste. Nach drei Gymnasien, einer Realschule und einmal Sitzenbleiben hatte sie am Ende nicht einmal den Hauptschulabschluss in der Tasche. „Gar nix.“
Eine Einstufung in einen Jahrgang mit viel jüngeren Schülern, Langeweile im Unterricht und Stress mit Mitschülern sind für sie die Gründe, warum sie „irgendwann keinen Bock mehr darauf hatte. Ich wollte arbeiten.“ In der Jugendwerkstatt Ehrenfeld des Vereins Jugendhilfe Köln begann sie ein Praxisjahr in der Schreinerei mit Berufsschule und holte ihren Abschluss nach.
In drei Werkbereichen – Schlosserei, Holzbereich und Kfz-Werkstatt – lernen jeweils neun Jugendliche, angeleitet von Handwerks-Meistern mit einer Zusatzausbildung als Werkpädagoge, praktische Arbeit kennen. Auf den begleitenden Berufsschulbesuch haben Sozialarbeiter ein wachsames Auge; Stützlehrerin Dagmar Schütt unterrichtet dazu in Kleinstgruppen, bis zur Hauptschulabschluss-Prüfung.
Vom heimeligen Klassenraum aus hat die 59-Jährige im wahrsten Wortsinn die Arbeit ihrer Schüler im Blick, durch ein Fenster sieht sie in die Werkstatthalle. „Ich mache einen sehr individuellen Unterricht mit maximal fünf Schülern, ganz anders als in der Schule“, erklärt sie. „Dem einen fehlen noch die Grundrechenarten, der Zweite kann schon Bruchrechnen, der Dritte kaum lesen. Dann stelle ich das Unterrichtsmaterial zusammen, um sie einigermaßen auf den gleichen Stand zu bringen.“ Ihre Arbeit ist aber nicht nur klassische Wissensvermittlung. „Kocht ein explosives Temperament mal über“, reichen oft schon eine besorgte Nachfrage und ein offenes Ohr in einem separaten Raum nebenan. „Das kann ich mir hier auch während des Unterrichts erlauben, ohne dass die Bildung darunter leidet.“
Wackelige Finanzierung
Doch die Finanzierung ihrer Stelle ist jedes Jahr aufs Neue mindestens so wackelig wie die Schulkarrieren der Jugendlichen, die sie stützen soll. „Um sie sicherzustellen, sind wir auf Gelder aus dem Europäischen Sozialfonds angewiesen. Die müssen wir jedes Jahr neu beantragen“, so Johannes Becker, Leiter der insgesamt drei Jugendwerkstätten des Vereins. „Das ist immer ein Zittern.“ Auch eine Vertretung gibt es nicht.
Der Jugendhilfe Köln e. V. nahm seine Arbeit als Pilotprojekt der Stadt Köln 1976 auf, und das Landesjugendamt stieg bald mit ein, um der zunehmenden Jugendarbeitslosigkeit zu begegnen. Stützunterricht war damals nicht vorgesehen – und auch nicht nötig, erinnert sich der Betriebsschlosser und Sozialpädagoge, der seit 30 Jahren für die Jugendhilfe arbeitet. „Die Brücke zum ersten Arbeitsmarkt war noch sehr breit.“ Für jeden Jugendlichen, der sich auf die Arbeit einließ, mitmachte und „bestimmte Anpassungsleistungen“ wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Arbeitswillen erbrachte, „haben wir Arbeit gefunden“.
Mitte der 80er Jahre fielen immer mehr „Einfachst-Arbeitsplätze“, so Becker, für Ungelernte weg. „Früher gab es die Kistenfabrik, die Ofenrohrfabrik, es gab viele Orte, an denen wir Leute unterbringen konnten.“ Dann nahm der Kostendruck der Betriebe zu, ganze Industriezweige brachen weg, Herstellung von Massenware wurde in Schwellenländer ausgelagert, sagt der 60-Jährige.
Die Brücke wurde enger. Die ursprüngliche Prognose, das Projekt sei nur fünf Jahre nötig, bis eine Vollbeschäftigung erreicht sei, hatte sich als falsche Hoffnung erwiesen. Die anderthalb Sozialarbeiterstellen sind schon lange viel zu wenig in einem mehr als knappen Finanz-Korsett. Zu wenig Arbeitsplätze für Ungelernte sei nach wie vor ein ungelöstes Problem.
Gut zwei Drittel aller 27 Teilnehmer schaffen es nach einem Jahr Werkstatt plus Schule in andere Maßnahmen oder in Arbeit. Das übrige Drittel wird arbeitslos, verschwindet einfach oder wird rausgeworfen. Becker: „Auch bei uns gibt es eine Grenze.“ Gewalt etwa. Doch eine Vermittlungsquote ist für ihn nicht entscheidend. „Wir führen den zum Abschluss, der motiviert ist und der kann. Eine erfolgreiche Vermittlung darf nie zur Marge werden, an der wir gemessen werden. Dann müssten wir die Jugendlichen auswählen. Und wir wollen ja gerade denen einen Chance geben, die durch alle Netze gefallen sind.“
Striktes Regelwerk
Ihre Jugendlichen fordern sie extrem. „Viele sind in ihrem Verhalten nicht altersgemäß und kennen keinen Grenzen.“ Kollegen aus Werkstatt, Schule und Sozialarbeit müssen dauernd im Austausch stehen. Ein striktes Regelwerk ist oberstes Gebot. So gibt es etwa weniger Taschengeld bei Zuspätkommen. Das wirkt. „Diese Jugendlichen brauchen eine andere Ansprache“, so Becker. „Wir gucken nicht auf ihre Schwächen, sondern auf ihre Stärken.“Viele Schulmüde sind unter den Teilnehmern. Manche sind in der rechtsradikalen Szene. Manche haben Vorstrafen, aber kein Interesse und null Motivation. Manchen fehlte die Unterstützung von zu Hause, anderen hatten schlimme Erlebnisse mit Lehrern oder Mitschülern. Einige zogen sich total zurück, andere wurden auffällig. „Manche riechen nur das Bohnerwachs im Schulflur, dann läuft bei denen ein Film von früher ab, und sie sind weg.“ Damit sie nicht auch die Berufsschule verweigern, kommen die Lehrer von dort in die Werkstatt. „Und plötzlich sind die Schüler viel mehr bei der Sache.“
Jessica Müller und ihren Werkstatt-Mitschülerinnen Rosaria K. und Sylvia F. hat das Lernen hier so viel Spaß gemacht wie an keiner Schule zuvor. Jessica: „Wir haben sogar nach mehr Unterricht gefragt.“ Die neunköpfige Gruppe aus Mädchen und Jungs war eine verschworene Gemeinschaft. „Wie eine zweite Familie“, sagt Rosaria. Doch nicht jede Gruppe ist so pflegeleicht wie ihre. Für Dagmar Schütt war sie „wie ein Sahnebonbon“. Das größte Lob ist für sie, wenn ein Schüler, „den ich mit Sanktionen zum Lernen schieben muss, plötzlich den Spaß daran wiederentdeckt“. Und für Johannes Becker zählt, „dass sich die Jugendlichen wieder was zutrauen und ein Stück Achtung erfahren“.
Rosaria macht jetzt eine Ausbildung zur Sozialhelferin, Sylvia besucht ein Berufskolleg. Und Jessica? Als „kleines, verschüchtertes Schulmädchen“ kam sie an. Jetzt hat sie ihren Abschluss mit einem Notendurchschnitt von 1,1 und immer noch nicht genug vom Lernen. Holz ist nicht ihr Ding. Sie mag aber nun Mathe und Englisch und macht jetzt ihr Berufsgrundschuljahr mit Fachoberschulreife. Danach steht das Fachabi an. „Ich will Sozialpädagogik studieren. Jetzt gehör ich wieder dazu.“ Rückblickend bedauert sie, die Schule nicht ernst genug genommen zu haben. „Andererseits hätte ich sonst nie die Jugendwerkstatt kennengelernt.“