wir helfenVon der Platte ins Vertriebsbüro

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Die Zeiten, in denen sich Sarah Müller (Name geändert) mit einer Filznadel und Tinte  selbst Tattoos verpasste; ihr Irokesen-Schnitt die Farbe wechselte, wie ein Chamäleon seine Tarnung; die Straßen der Republik ihr Zuhause waren und die Punk-Szene ihr Familienersatz,   gehören längst der Vergangenheit an. Heute, sieben Jahre später, träumt die 24-jährige alleinerziehende Mutter des sechsjährigen Jonas (Name geändert)  von einem Studium der Wirtschaftsinformatik, um als Unternehmensberaterin „auf einem anderen Level klugscheißen zu können als diejenigen, die aufgrund Jahrzehnte andauernder Firmenzugehörigkeit betriebsblind geworden sind.“     

Job als professionelle Besserwisserin in Sicht

Die Chancen auf einen Posten als professionelle Besserwisserin stehen nicht schlecht. Sarah Müller hat ihre Mittlere Reife sehr gut  abgeschlossen, ihre Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement mit 1,6, hat einen Job im internationalen Vertrieb  eines  Kosmetikunternehmens gefunden – und in ihren Alltag als Mutter, in  der eigenen 70-Quadratmeter-Wohnung für sich und Jonas.  Auf  all  das  ist Sarah auf angenehm unaufgeregte  Art und Weise stolz. Gerda Krabes ist es auch. Die Sozialpädagogin im Haus Adelheid des  „Sozialdienstes Katholischer Frauen“ in Köln (SkF) war Sarahs Begleiterin  in der Zeit von Herbst  2012, als Sarah, 17 Jahre alt, alleine und hochschwanger, die pädagogische Einrichtung für alleinerziehende Mütter und Väter bezog, bis  Oktober  2015, dem Monat  ihres Auszugs – in die Selbstständigkeit.

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34 cm-Tunnel im Ohr und schlechte Tattoos

Zeitsprung ins Jahr 2011: Sarah, die seit einem Jahr ohne  Ziel, Zunder und Zuhause durch die Republik reist, spürt, dass das Leben so  nicht weitergehen kann.  „Aus der Szene ging einer nach dem anderen vor die Hunde, wurde krank von Alkohol und  Drogen oder starb an einer Überdosis.“ Sarah sehnt sich nach einer Ausbildung  und  eigenen vier Wänden.  „Ich war verschuldet wegen Schwarzfahrens, hatte blaue Haare, Tunnel mit einem Durchmesser von 34 Zentimetern in beiden Ohren, schlechte Tattoos  am Körper. Welcher Vermieter, welche Ausbildungsstätte hätte mich  gewollt?“ An ihre getrennt lebenden Eltern will sie sich nicht wenden. Der Versuch, bei ihrem  Vater zu leben, ist ein Jahr zuvor gescheitert. Die  Mutter, von der Sarah mit 13 zum Vater zog, weil sie ständig verreiste und Sarah über Monate hinweg alleine ließ, hat  ihr eigenes Leben.   Zum Zeitpunkt größter Verzweiflung trifft Sarah auf der Kölner Domplatte einen Streetworker der „Offroad Kids“. Dann geht alles ganz fix.

Utraschallbild macht Strich durch die Rechnung

Die Streetworker vermitteln Sarah eine eigene Wohnung im betreuten Jugendwohnheim Sankt Ursula des Erzbistums Köln. Dort lernt sie, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen, ihren Alltag zu meistern und einen Berufsvorbereitungskurs zu finden. Über die Jugendwerkstatt Porz   kommt sie im März 2012 an ein  Praktikum in einer Schreinerei – ist begeistert, begabt und kurz davor, eine Ausbildung zu beginnen. Dann macht das  Ultraschall-Bild  eines zwölf  Wochen alten Fötus einen Strich durch die Rechnung.  Für Sarah bricht eine  Welt zusammen. „Schwanger hätte ich nicht in einer Schreinerei  arbeiten dürfen, mein Freund kam weder als Partner noch  als Vater in Frage, ich selbst fühlte mich außerstande Mutter zu sein.“  Sarah zieht sich zurück. Und denkt nach. Bis sie einen Entschluss fassen kann: „Wenn meine Mutter das geschafft hat, schaffe ich das auch!“ Nur wie? Wo? Und auf keinen Fall alleine!

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Das Leben auf der Straße gleicht manchmal einem ausweglosen Tunnel

Uncool, aber keine Wohngruppe

Ein Frauenhaus wäre nicht in Frage gekommen, da sich Sarah  in keiner Gefahrensituation befand. In einer Wohngruppe hätte sie niemals leben können. Auch  nicht bei den Eltern – „keine Privatsphäre.“  Schließlich sucht sie Rat beim Jugendamt, wo sie vom „Haus Adelheid“ erfährt.   Sarah, die bisher viel Wert auf ein autonomes  Leben legte, ist skeptisch: zu viele Regeln, zu viel gefühlte Unfreiheit. „Uncool, dachte ich, aber immerhin keine Wohngruppe!“

Mitte  Oktober 2012 packt sie ihre drei Sachen und bezieht eine  Wohnung im „Haus Adelheid“. Am 28. Dezember bringt sie Jonas zur Welt. „Ich liebte ihn von der ersten Sekunde an, hatte nur keine Idee, was man mit so einem Wurm macht.“  Gemeinsam mit Gerda Krabes und den vielen Angeboten im „Haus Adelheid“ findet Sarah peu à peu in ihre Mutterrolle. „Das erste Jahr war ultrahart, ich war oft an den Grenzen meiner Möglichkeiten, habe  darüber nachgedacht,  Jonas abzugeben.“ Doch Gerda Krabes ist für sie da. Dank ihrer begleitenden Hilfe kann Sarah im Laufe von drei Jahren  eine gute Grundlage für die gemeinsame Zukunft mit Jonas entwickeln. 

Wie viele Kinderseelen es wohl gekostet hat?

Heute, der Irokesen-Schnitt ist durch eine Langhaarfrisur ersetzt, die Tunnel sind verschwunden, weiß sie: „Es war unglaublich richtig,  ins Haus Adelheid zu ziehen. Ein Mutter-und-Kind-Haus  ist nichts, wofür man sich schämen muss.  Wer weiß, wie viele Kinderseelen es gekostet hat, weil Mütter  sich nicht helfen lassen wollten oder konnten.“

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