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Chef der NRW-Unternehmer„15 Euro Mindestlohn sind vollkommen realitätsfremd“

Lesezeit 7 Minuten
Valentyna Vysotska, Friseurin aus der Ukraine, steckt die Haare ihrer Kundin hoch, aufgenommen im Friseursalon Coiffeur Sivan in Berlin, 22.04.2024. Berlin Deutschland *** Valentyna Vysotska, hairdresser from Ukraine, puts up her customers hair, photographed in the hairdressing salon Coiffeur Sivan in Berlin, 22 04 2024 Berlin Germany Copyright: xJulianexSonntagxphotothek.dex

Beschäftigte im Friseurhandwerk würden in vielen Fällen von einer Erhöhung des Mindestlohns profitieren.

Johannes Pöttering, Chef des NRW-Arbeitgeberverbandes, sieht durch einen Mindestlohn von 15 Euro pro Stunde Jobs und Unternehmen in Gefahr.

Herr Pöttering, die Mindestlohnkommission hat den Auftrag, bis zum 30. Juni für die Jahre 2026 und 2027 einen neuen Mindestlohn festzulegen. Aus der SPD kommt der Ruf nach einem Anstieg auf 15 Euro. Wie stehen Sie dazu?

Johannes Pöttering: Zunächst: Als 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wurde – damals waren es 8,50 Euro – hat der Gesetzgeber klar festgelegt, dass dessen Erhöhung fortan Sache einer unabhängigen Kommission aus Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern sein werde. Bis 2021 hat diese Kommission den Mindestlohn dann sukzessive immer nach einer gemeinsamen Gesamtabwägung auf 10,45 Euro erhöht, bis die SPD im Wahlkampf gesagt hat: zwölf Euro! Laut SPD sollte diese politische Einflussnahme nur ein einmaliger Vorgang sein und danach die Kommission wieder übernehmen. Für die beiden vergangenen Jahre ist dies auch so geschehen. Doch im jüngsten Wahlkampf war davon bei der SPD erneut keine Rede mehr, jetzt soll es für das Jahr 2026 ein Anstieg von derzeit 12,82 Euro auf gleich 15 Euro werden. Zwar betont der Koalitionsvertrag die Unabhängigkeit der Mindestlohnkommission. Gleichzeitig weckt er aber die Erwartung, dass 2026 durchaus 15 Euro erreichbar seien.

Wie schätzen Sie die Forderung ein?

15 Euro Mindestlohn sind vollkommen realitätsfremd. Aus meiner Sicht ist das reiner Lohn-Populismus. Das wäre innerhalb von zwölf Monaten ein Plus von 17 Prozent. Und das in einer wirtschaftlichen Lage, die seit Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 noch nie so angespannt war wie heute. Wir sind im dritten Jahr der Rezession. Wir haben es mit geopolitischen und -ökonomischen Risiken zu tun wie selten zuvor. Wir merken inzwischen auch deutlich, dass die Krise auf den Arbeitsmarkt durchschlägt. In so einer Situation eine so unverhältnismäßige Mindestlohnforderung aufzustellen, ist unverantwortlich und für viele Branchen einfach nicht mehr tragbar.


Johannes Pöttering, 1977 in Flensburg geboren, absolvierte nach dem Wehrdienst ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Osnabrück. Von 2008 bis 2011 war er Referent des Hauptgeschäftsführers bei Metall NRW. Seit 2011 arbeitet der Rechtsanwalt für die nordrhein-westfälischen Unternehmensverbände, wurde 2014 zum stellvertretenden Hauptgeschäftsführer und 2020 zum Hauptgeschäftsführer der Spitzenorganisation der nordrhein-westfälischen Wirtschaft bestellt. Seit 2021 führt er Unternehmer NRW und Metall NRW in Personalunion.


Aber wir haben in den Vorjahren eine beträchtliche Inflation gesehen, die insbesondere die unteren Lohngruppen, speziell die Mindestlohnempfänger, in unvergleichlicher Härte getroffen hat. Damit wäre eine solche Erhöhung gerechtfertigt und menschlich.

Menschlich gesehen mögen die Wünsche nach einem höheren Mindestlohn zwar verständlich sein. Aber Lohnpolitik darf keine sozialpolitische Größe sein. Und der Mindestlohn ist keine Sozialleistung. Das Arbeitsentgelt muss sich immer im Wettbewerb erwirtschaften lassen. Hinter einem Lohn muss eine betriebswirtschaftliche Produktivität stehen, damit er sich rechnet. Sollte für den Einzelnen der Lohn für den Lebensunterhalt dann nicht ausreichen, ist das keine lohn-, sondern eine sozialpolitische Frage. Ein Alleinverdiener mit Familie braucht aus sozialpolitischer Sicht sicher mehr Geld als ein Alleinstehender. Hierfür kann aber nicht der Arbeitgeber verantwortlich sein. Und eines ist doch völlig paradox: Schon heute kommt ein Alleinverdiener, der 40 Stunden die Woche zum Mindestlohn arbeitet, auf 2200 Euro. Damit zahlt er bereits mehr als 100 Euro Lohnsteuer. Der Staat ist also der Meinung, dass der jetzige Mindestlohnbezieher so leistungsfähig ist, dass er immerhin noch Steuern zahlen kann. Von den immer weiter steigenden Sozialversicherungsbeiträgen wollen wir gar nicht reden, die zahlt er ohnehin.

Welche Folgen hätte dann der Mindestlohn von 15 Euro für den Arbeitnehmer?

Der Arbeitnehmer aus unserem Beispiel würde bei einem Mindestlohn von 15 Euro dann 200 Euro Lohnsteuer im Monat zahlen. Am Ende kassiert also der Staat bei der Mindestlohnerhöhung mit. Spätestens das führt doch die Argumente derer, die den Lohn zu einer sozialpolitischen Größe machen wollen, ad absurdum.

Ich befürchte, dass gerade in den lohnintensiven Bereichen noch mehr Arbeitsplätze durch den Mindestlohn wegbrechen werden.
Johannes Pöttering

Welche Branchen würde eine solche Erhöhung besonders treffen? Haben Sie Beispiele?

Wir sehen es doch schon hier bei uns im Rheinland: Obst, Gemüse, Spargel, das ist alles extrem lohnintensiv mit einem Kostenanteil von teilweise deutlich über 50 Prozent. Bei 15 Euro Mindestlohn werden die Preise massiv anziehen und viele Kunden nicht mehr bereit sein, das zu zahlen. Die Folge wird sein, dass noch mehr billigeres Gemüse aus dem Ausland kommt. Oder denken Sie an andere Dienstleistungsbereiche: Einzelhandel, Hotel- und Gaststättengewerbe, Friseurhandwerk, Gebäudereiniger, Garten- und Landschaftsbau, Systemgastronomie – in diesen und anderen Branchen gibt es Vergütungsgruppen, die von einer Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro unmittelbar betroffen wären. Da dürften nicht nur Preise erhöht, sondern auch Servicezeiten weiter eingeschränkt werden müssen. Das ist für uns als Verbraucher schlecht, aber auch für die betroffenen Arbeitnehmer, weil dadurch das Arbeitsplatzangebot in diesen Branchen niedriger wird. Ich befürchte, dass gerade in den lohnintensiven Bereichen noch mehr Arbeitsplätze durch den Mindestlohn wegbrechen werden.

Welche Auswirkungen hat die aktuelle Debatte auf die Themenfelder Tarifautonomie und Tarifbindung?

Es ist ein Angriff auf die Regelungskompetenz der Sozialpartner. Bereits im Jahr 2022 ist mit der politisch erzwungenen Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro in etwa 100 Tarifverträge eingegriffen worden. Wenn wir jetzt auf 15 Euro gehen würden, wären noch mal so viele betroffen. Zusätzlich wächst auch immer stärker der Druck auf jene Arbeitsplätze, die gehaltlich darüber liegen. Denn der Mindestlohn nähert sich einer Größenordnung, die das gesamte Lohngefüge in unserem Land weiter nach oben verschiebt.

Ist doch klar: Wenn die ungelernte Hilfskraft schon 15 Euro in der Stunde verdient, dann will derjenige mit Berufserfahrung natürlich deutlich mehr verdienen. Das merken wir sogar in der Industrie, wo die Löhne immer deutlich über dem Mindestlohn lagen. Betriebswirtschaftliche Maßstäbe drohen in der Lohnfindung immer mehr an Gewicht zu verlieren. Das wird nicht lange gut gehen. Hinzu kommt eine ganz ungesunde Entwicklung, die wir seit Jahren beobachten: Wenn im privaten Sektor – vornehmlich in der Industrie – immer mehr Arbeitsplätze verloren gehen, der öffentliche Sektor aber immer mehr Beschäftigte aufnimmt, führt das dazu, dass der Arbeitsmarkt nicht mehr die Produktivität erzielt, die notwendig wäre.

Gewerkschaften unter Druck

Wie sehen die Gewerkschaften auf die Erhöhung?

Ich finde ihr Verhalten widersprüchlich. Auf der einen Seiten beklagen die Gewerkschaften die rückläufige Tarifbindung. Auf der anderen Seite lassen sie aber zu, dass der staatliche Mindestlohn vielerorts massiv in zwischen Arbeitgeberverbänden und ihnen selbst vereinbarte Tarifverträge eingreift. Das kann dazu führen, dass die Gewerkschaften hier ihre tarifpolitische Arbeit eigentlich einstellen können. Die Folge wird sein, dass die Zahl der tarifgebundenen Beschäftigten weiter zurückgeht. Das aber ist das genaue Gegenteil von „Tarifautonomie stärken“, was Teile der Politik in Sonntagsreden propagieren und Gewerkschaften selbst fordern. Und sie sollten sich bewusst machen, dass bei einem Anstieg des Mindestlohns um 17 Prozent eine Erwartungshaltung geschürt wird, die von Gewerkschaften und Arbeitgebern künftig nur enttäuscht werden kann.

Was wäre aus Ihrer Sicht denn ein gangbarer Weg?

Der politische Druck von der Seitenlinie auf die unabhängige Mindestlohnkommission muss aufhören. Am Ende schwächt man so die Sozialpartnerschaft. Das macht es am Ende doch auch den Gewerkschaften schwerer, ihrem Mitgliederwunsch gerecht zu werden. Denn viele Arbeitnehmer in den betroffenen Branchen werden sich die Frage stellen: Wenn der Gesetzgeber den Mindestlohn auf 15 Euro setzt, wofür brauchen wir dann noch eine Gewerkschaft? Übrigens: Allein durch die Forderung nach 15 Euro hat die Politik eine Einigung in der Kommission für beide Seiten massiv erschwert. Deshalb unser Plädoyer an die Politik: Den Koalitionsvertrag befolgen, die Mindestlohnkommission in Ruhe ihren Job machen lassen und nicht ständig mit staatlichen Eingriffen drohen.

Im Europavergleich hohe Löhne

Was wären denn eine Zahl, die Sie für realistisch halten?

(lacht) Als erfahrener Tarifjournalist wissen Sie, dass ich hier keine Zahlen nennen werde. Die Gesamtabwägung ist Sache der Mindestlohnkommission. Nur so viel: Im Gesetz wird die nachlaufende Tarifentwicklung als Kriterium genannt. Bei der derzeitig schwierigen wirtschaftlichen Lage sind die Spielräume extrem eng. Verschiedene Branchen haben uns schon signalisiert, dass für sie schon jede noch so kleine Erhöhung extrem schwierig ist. 15 Euro sind also in jeder Hinsicht unrealistisch. Ich kann der Politik nur raten, jetzt die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft in den Mittelpunkt ihres wirtschaftspolitischen Handelns zu stellen. Der Standort Deutschland ist im internationalen Vergleich durch die teuren Energiekosten, die hohen Unternehmenssteuern und die weltweit höchsten Lohnzusatzkosten ohnehin immer mehr ins Hintertreffen geraten. Die Politik würde daher gut daran tun, wenn sie ihren sozialpolitischen Eifer darauf verwenden würde, die Sozialversicherungen zukunftsfest zu machen und so Arbeitnehmer und Unternehmen bei den Lohnzusatzkosten zu entlasten.

Wie sieht es denn in relevanten Nachbarländern mit dem Mindestlohn aus?

Niedriger liegen etwa Belgien bei 12,57 Euro, Frankreich bei 11,88 Euro, Slowenien bei 7,39 Euro und Polen bei 7,08 Euro. Höher liegen im aktuellen Vergleich nur wenige, Luxemburg etwa bei 15,25 Euro oder die Niederlande bei 14,06 Euro. Ein grundsätzliches Problem ist auch, dass ein Mindestlohn von 15 Euro für ganz Deutschland gelten würde – ungeachtet völlig unterschiedlicher Lebensbedingungen. Im lohnstarken und gleichzeitig teureren Süden mag das weniger Bereiche betreffen, dafür uns in NRW deutlich mehr. Denken Sie allein an den Einzelhandel oder die Gastronomie und die Folgen für unsere Innenstädte. Und für ganz viele Unternehmen in Ostdeutschland indes wären 15 Euro schlicht eine Katastrophe.

Welche Auswirkung hat ein 15 Euro hoher Mindestlohn auf den Ausbildungsmarkt?

Das bereitet mir wirklich große Sorgen. Denn wenn Sie als junger Mensch wissen, dass Sie künftig auch ohne Ausbildung für einfache Tätigkeiten durch Mindestlohn ein Monatsgehalt von 2500 Euro bekommen, dann überlegen Sie sich vielleicht, ob sich eine Berufsausbildung für Sie wirklich lohnt. Es werden für die kurzfristig Denkenden erhebliche Fehlanreize gesetzt, die sich später rächen werden. Das können wir doch alle auch aus gesellschaftspolitischen Gründen nicht wollen. Und es ist ein weiterer Beleg dafür, wie fatal es ist, wenn der Staat in die Lohnpolitik eingreift. Ich kann davor wirklich nur warnen.