"Man fragt sich, warum ein solcher Unsinn überhaupt sein muss"
Professor Feld, ist die zähe Regierungsbildung in Deutschland ein Problem für die Wirtschaft oder kann man da darüber hinwegsehen?
Das Nicht-Zustande-Kommen einer Regierung macht unmittelbar für Deutschland weder konjunkturell noch wirtschaftspolitisch viel aus. Aber es gibt eine Reihe von Dingen, die auf europäischer Ebene anstehen und von großer Bedeutung für die deutsche Wirtschaft sind. Ich rede da nicht nur von der Europäischen Währungsunion und den deutschen Antworten auf die Impulse des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Wir haben eine Reihe von Richtlinien, über die entschieden werden muss. Etwa die Privacy-Richtlinie oder wenn es darum geht, die Rahmenbedingungen für die digitale Wirtschaft neu zu fassen. Da muss Deutschland dabei sein. Deshalb muss eine handlungsfähige Regierung her.
Es läuft wieder auf eine große Koalition hinaus, auch eine von der SPD geduldete Minderheitsregierung scheint möglich. Eine gute Idee?
Eine Minderheitsregierung kann eine Weile funktionieren, sie könnte aber angesichts unserer Vorliebe für stabile Lösungen nur eine Übergangslösung sein, in der Hoffnung, dass sich nach Neuwahlen eine andere Konstellation ergibt.
Die gesellschaftliche Realität drückt eine starke Spannung im Land aus, während es zugleich einen Wirtschaftsboom gibt. Ein merkwürdiger Gegensatz?
Ja, absolut. Wir leisten uns angesichts der gesellschaftlichen Unterschiede, die es bei uns gibt, eine Zersplitterung der politischen Landschaft. Als es uns in den 1990er Jahren wirtschaftlich schlechter ging, aus dem Westbalkan Bürgerkriegsflüchtlinge sowie aus der ehemaligen Sowjetunion Spät-Aussiedler zuwanderten, wurden diese ohne Zersplitterung politische Eruptionen integriert. Wir kamen ohne Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung aus.
Steckt da ein Reflex auf die Globalisierung hinter, welche die Menschen verunsichert?
Die Flüchtlingsmigration ist die Kehrseite der Globalisierung. Dass mehr Menschen in Richtung der reichen Länder unterwegs sind, ist genau das, was man erwarten kann. Allerdings kommen die meisten großen Flüchtlingsströme nicht durch Armut allein, sondern vor allem durch bewaffnete Konflikte zustande. Die Globalisierung ist insgesamt das effektivste Armutsreduzierungsprogramm in der Welt, das es überhaupt gibt. Es sind heute viel weniger Menschen arm als vor 50 Jahren, obwohl sich die Weltbevölkerung fast verdoppelt hat. Diese Einsicht könnte bei aller Verunsicherung helfen.
Das Wachstum in der Eurozone sieht zurzeit gut aus. Kann man sich auf die Entwicklung stützen?
Das würde ich noch nicht tun. Zurzeit besteht eine günstige Situation. Wir haben seit einiger Zeit eine ganz gute Entwicklung - mit Ausnahme Griechenlands. Irland läuft sehr gut, Spanien hat ordentliche Wachstumsraten, die hohe Arbeitslosigkeit geht kräftig zurück, auch Portugal sieht gut aus. Im Großen und Ganzen ist man über den Berg, aber noch nicht auf der Ebene, auf der es gemütlich wird. In Italien und Frankreich haben wir noch viel Reformarbeit vor uns. Vor allem ist das Verschuldungsniveau in den Mitgliedstaaten der Währungsunion weiterhin zu hoch. Wenn jetzt ein unvorhersehbarer Schock käme, muss man sich fragen, wie die Fiskal- und die Geldpolitik darauf überhaupt noch bei hohen Schuldenniveaus beziehungsweise niedrigen Zinsen reagieren wollte. Wir sind nicht so weit, dass wir von einer robusten Situation in Europa sprechen können, die Risiken sind weiterhin hoch, aufgrund der hohen staatlichen Verschuldung, aber auch wegen der hohen privaten Schulden in den Mitgliedstaaten.
Der Brexit wird Europa nicht aus der Bahn werfen?
Der Brexit stellt zusammen mit der italienischen Wahl im Frühjahr eines der großen Risiken der kommenden Jahre dar. Er ist deshalb problematisch, weil man im Augenblick nicht erkennen kann, wie sich ein harter, ungeordneter Brexit im Frühjahr 2019 vermeiden lässt. Wenn man sich nicht darauf einigen kann, eine Verlängerung der Verhandlungsphase für ein Freihandelsabkommen zu vereinbaren, ist die Gefahr des ungeordneten Austritts von Großbritannien enorm groß. Das würde realwirtschaftlich bedeuten, dass wir mit unseren internationalisierten Wertschöpfungsketten, die eben auch nach Großbritannien internationalisiert sind, einen Bruch bekämen. Das hätte sicherlich Schockwirkung für Deutschland und im Rest Europas. Ganz ehrlich fragt man sich, warum ein solcher Unsinn überhaupt sein muss.
Lars P. Feld (51) ist seit März 2011 Mitglied des Sachverständigenrates. Er lehrt als Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und leitet dort das Walter-Eucken-Institut.