Öffentlicher GesundheitsdienstWenn der Schularzt nicht mehr kommt

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Bild aus den Zeiten (1955) der frühen Bundesrepublik: Arztbesuch in der Schule

Bild aus den Zeiten (1955) der frühen Bundesrepublik: Arztbesuch in der Schule

Köln – Immer, wenn er kam, hatte man ein mulmiges Gefühl. Der Schul-Zahn-Bus war in den 70er und 80er Jahren Teil einer inneren Prüfung. Der Besuch im Bus war obligatorisch. Besonders sensibel waren die Mediziner damals nicht und so die Lust gering, in den Bus zu steigen. Angst vor dem Zahnarzt muss heute eigentlich niemand mehr haben, die Behandlung ist deutlich sensibler und schonender für den Patienten.

Jeder, der zur Schule gegangen ist, wird sich an einen Amtsarzt erinnern, auch wenn es nicht zwangsläufig der Zahnarzt gewesen sein muss. Es kann auch eine Impfung oder eine allgemeine Untersuchung gewesen sein.

Jeder zweite Arzt geht in Rente

Doch diese Besuche von Ärzten des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) in Schulen könnten schon bald Seltenheitswert haben. Es werde zu massiven Engpässen kommen, warnte unlängst der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sei in Gefahr, wenn pensionierte Amtsärzte keine Nachfolger mehr finden würden. Jeder zweite Arzt im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) geht im kommenden Jahrzehnt in Rente. Gleichzeitig machen junge Ärztinnen und Ärzte einen großen Bogen um den schlecht bezahlten Öffentlichen Dienst.

2500 Mediziner arbeiten für den ÖGD in Deutschland – mit vielfältigen Aufgaben. Sie kümmern sich um Einschulungsuntersuchungen, Beratungen von Schwangeren, Belehrungen oder Gesundheitszeugnisse für in der Lebensmittelbranche Tätige. Hinzu kommen Hilfsangebote für psychisch kranke oder auch behinderte Menschen. Aber es geht auch um Hilfen für Familien mit Kleinkindern. Die Liste ließe sich problemlos erweitern. Doch ausgerechnet dieser Dienst, den jeder als Schüler kennengelernt hat, ist in seiner Funktionsweise bedroht wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik.

Trotz geregelter Arbeitszeiten kaum Nachfolger

Spritzen für die Kleinen, Beratung für Eltern, deren Kinder mit einem Handicap kämpfen – kaum einer kennt das alles so gut wie Gabriele Trost-Brinkhues. Als sie 1981 in den ÖGD eintrat, entschied sich die junge Medizinerin für diesen Dienst, weil sie als Mutter von zwei Kindern keine andere Möglichkeit hatte, in Teilzeit zu arbeiten. Als niedergelassene Ärztin oder im Krankenhaus wäre das vor drei Jahrzehnten noch undenkbar gewesen. Nach mehr als 40 Jahren im Dienst ist die langjährige Leiterin des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes beim Gesundheitsamt der Städte-Region Aachen im Vorjahr in den Ruhestand verabschiedet worden.

Die Zahl der Nachfolger ist zu gering, obwohl der ÖGD einen großen Vorteil gegenüber anderen Arztberufen hat: Eine geregelte Arbeitszeit und keine Nachtdienste. Der Nachteil: Die Ärzte verdienen so viel wie Lehrer, haben aber eine deutlich längere Ausbildung als diese. Sie bekommen halb so viel wie niedergelassene Ärzte oder Ärzte im Krankenhaus. „Das ist immer noch gut und kein Grund zum Klagen“, findet Trost-Brinkhues. Sie spricht über ein erfülltes Leben als Medizinerin im Dienst der Allgemeinheit. Die Verabschiedung in den Ruhestand sei jedoch ein Abschied mit Sorgen, erzählt sie dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, weil Nachrücker nicht in Sicht sind.

„Es gibt viele Angebote, aber im Verhältnis dazu wenig Mediziner“, sagt sie. Zudem würden die Kommunen gerne auch beim ÖGD sparen. Das sei ein gefährlicher Weg, findet sie. „Die Kommunen müssen die Verantwortung für die Bevölkerung auch in gesundheitlicher Hinsicht durch Wertschätzung und adäquate Personaldecke ernst nehmen“, sagt sie. Die Bevölkerungsmediziner seien wichtig für die Menschen. „Eine verantwortungsvolle Aufgabe“ sei das, erklärt sie.

„Betriebsärzte für Kinder“

Durch die Pensionierungswelle würden vor allem in ländlichen Räumen vermehrt Probleme auftreten. Die Ärzte im Öffentlichen Dienst müssen schon jetzt immer mehr Aufgaben übernehmen, „und die Qualität wird zwangsläufig darunter leiden“, sagt die frühere Amtsärztin. Der Schulzahnarzt wird dann vielleicht nicht mehr jede Schule anfahren können, worunter vor allem eine besondere Gruppe von Kindern zu leiden hat: Die Daten der Zahnärztlichen Abteilung zeigen, je ärmer und je bildungsferner die Familien, desto schlechter die Zähne der Kinder.

„Vor allem die Kinder, die nicht zu den Begabten gehören oder die vielleicht ein Handicap haben, benötigen Hilfe.“ Es gebe eben chronische Erkrankungen, Behinderungen, Teilleistungsstörungen und da benötigen die Schüler Unterstützung. Fast zehn Prozent der Kinder würden in Deutschland immer noch keinen Schulabschluss schaffen, in einem der reichsten Länder der Welt.

Aber Schüler mit psychischen Belastungen und Erkrankungen oder mit Aufmerksamkeitsproblemen benötigen kontinuierliche Hilfe, die vor allem vom ÖGD übernommen wird. „Diese Schwierigkeiten können nur gemeinsam mit Lehrern und Therapeuten gelöst werden“, erklärt die Ärztin. Sie selbst versteht sich und ihre Kollegen als „Betriebsärzte für Kinder“. Bereits bei Schulbeginn zeige sich, dass 25 Prozent der Kinder in Armut lebt oder aus bildungsfernen Haushalten kommt und für den Schulerfolg Förderung und Unterstützung benötigen.

Verlierer seien am Ende die Kinder

„Es sind Kinder, die nicht gut versorgt sind, und es werden trotz aller Bemühungen eher mehr als weniger“, sagt Trost-Brinkhues. Ein anderes großes Problem sei etwa, dass später viele Jugendliche aus verschiedenen Gründen die Schule schwänzen würden. In der Hälfte der Fälle seien es psychische Störungen, die hierfür verantwortlich seien. „Es ist wirklich ein Problem, da müssen wir gemeinsam mit den Schulen Hilfe anbieten“, fordert die Ärztin.

Im Jahr 2016 hatte sich bereits die Gesundheitsministerkonferenz mit dem Nachwuchsmangel im ÖGD befasst und ein Maßnahmepaket beschlossen. Pauschal ließe sich nicht sagen, wie sich das Personalproblem in der Zukunft auf die Schulen auswirke, sagte ein Sprecher des NRW-Gesundheitsministeriums dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Der Nachwuchsmangel werde ja nicht nur in NRW, sondern bundesweit beklagt. Der Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Dr. Thomas Fischbach, erkennt Handlungsbedarf: „Der ÖGD hilft, Epidemien zu verhindern; er sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche die Förderung erhalten, die sie brauchen“, deshalb dürfe der ÖGD nicht ausbluten. Jeder Masern-Ausbruch, jedes behinderte oder entwicklungsgestörte Kind zeige, „dass wir nicht zulassen dürfen, dass die Kommunen ihn kaputtsparen“. Verlierer seien am Ende die Kinder.

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