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Tempo, Chaos, DruckDie Getriebenen aus dem Amazon-Lager Rheinberg – ein Besuch

Lesezeit 4 Minuten
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Monotonie am Arbeitsplatz: Ein Amazon-Beschäftigter verpackt Waren und legt sie auf das  Band.

  1. 6500 Menschen arbeiten in NRW für Amazon, den weltweit größten Online-Versandhändler. Der macht Negativ-Schlagzeilen durch prekäre Arbeitsbedingungen für Lieferanten. Aber wie sieht es im Werk selbst aus?
  2. Ein Besuch in Rheinberg, wo eins von drei NRW-Warenlagern steht: Dort hat sich das „chaotische System“ etabliert, mit dem die Waren verteilt werden.
  3. Viele Arbeiter dort wirken wie Getriebene. Am Eingang hängt eine Tafel, auf der der Mitarbeiter mit den wenigsten Krankheitstagen gewürdigt wird.
  4. Ist das der Preis für das Amazon-Versprechen, so schnell wie möglich zu sein?

Es ist einer der seltenen Einblicke, die das Handelsimperium Amazon zulässt. Und natürlich macht Amazon das nicht einfach so, sondern um eine Botschaft zu überbringen: „Wir versprechen, 1000 neue Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen zu schaffen“, sagt Markus Neumayer, Chef des Logistikzentrums Rheinberg. Hier, im westlichen Ruhrgebiet, steht eines von drei, bald vier – daher die Arbeitsplätze – Warenlagern im Land. Wahrscheinlich haben alle Kunden Waren zu Hause, die schon mal hier gelagert, verpackt und verschickt wurden. Die Hallen von Rheinberg zeigen, wie das System Amazon funktioniert.

Der Handelsriese tritt an, der Schnellste zu sein, der Günstigste sowieso. Wenige Klicks auf dem Smartphone und das Buch, der Rasenmäher, das Hundefutter ist gekauft und auf Wunsch noch am selben Abend vor der Tür. Amazon hat es mit seinem Geschäftsmodell zum größten Onlineversandhändler und zweitwertvollsten Unternehmen der Welt gebracht. „Wir haben inzwischen mehr als 300 Millionen Artikel auf Amazon.de“, sagt Deutschland-Chef Ralf Kleber.

Nichts wird weggeschmissen

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In dutzenden solcher Gänge sind die Waren verteilt.

Eine Million davon lagert in Rheinberg, sagt Neumayer. Manche, wie neue Bücher, Handys oder Musikalben in großen Mengen, andere als Einzelstücke. Ein vergilbtes Bilderbuch der Olympischen Spiele von 1972 etwa, ein dunkelblauer Fleece-Pullover, der augenscheinlich nie den Massen-Geschmack getroffen hat. „Das wird nicht weggeschmissen“, sagt Neumayer. Eines Tages findet alles seinen Käufer. Auf 110.000 Quadratmetern über sechs Etagen liegt die Ware in unendlich scheinenden Gängen, geordnet nach dem „chaotischen System“: Jeder neu angelieferte Artikel kommt dahin, wo Platz ist. In einem Fach liegt ein Hundeknochen zwischen Vaseline und Feuchttüchern. In einem anderen Darmtabletten neben einem Spielzeug-Dinosaurier für Kinder und einem 1000er-Paket Kondome, wahrscheinlich für den kommerziellen Gebrauch. Kommt es mal vor, dass die Mitarbeiter danebengreifen? Fast nie, sagt Neumayer. Dafür sorgt ein Scanner, den die Mitarbeiter an einem Handcomputer tragen.

Der zeigt auch den Weg zur Ware an, sekundengenau ermittelt mit dem eigenen Amazon-Algorithmus. In breiteren Gängen fahren elektrische Gabelstapler automatisch auf Induktionsschleifen zum richtigen Fach. Über Lautsprecher läuft Radiomusik in der Halle. Wie am Flughafen bringen kilometerlange Förderbänder die Waren zu den Verpackungsstationen. Die Ware wird eingepackt und über das letzte Band über die automatische Etikettier-Station zum Ausgang geschickt, wo die Transporter warten.

Vor 20 Jahren fing Amazon in Deutschland vor allem als Buchversand an. „Unsere Vision war, jedes Buch jedem Leser auf der Welt verfügbar zu machen. Das ist die Welt, von der wir träumen “, sagt Kleber. Und er hat nicht genug: „Fünf Milliarden Menschen auf der Welt nutzen das Internet, nur 300 Millionen davon nutzen Amazon. Wir haben noch großes Potenzial.“ 6500 Menschen arbeiten für Amazon in NRW, 1700 davon in Rheinberg, 80 Prozent fest angestellt. Zum Weihnachtsgeschäft kommen 1000 temporär Beschäftigte dazu. Weil sonntags nicht gearbeitet werden darf, kommen Waren, die am Sonntag bestellt werden, oft aus Lagern im Ausland.

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Amazons „chaotisches System“: Hundespielzeug liegt in einem Fach neben Lichterketten und Gummihandschuhen.

„Das System macht krank“

Auch wenn die Maschine kurz vor Weihnachten auf Hochtouren läuft, will Amazon pünktlich liefern. Fünf Stunden vergehen im Schnitt zwischen dem Klick eines Bestellers und der Verladung in den Transporter. „Am Ende werden zwölf Menschen beteiligt gewesen sein“, sagt Neumayer. „Vielleicht hat jemand sein Geburtstagsgeschenk in der Hand, ohne es zu wissen.“Was die Hatz nach Schnelligkeit, der Druck, vieles kostenfrei zu versenden, für die Arbeit bedeutet, zeigt sich auch hier.

Vor dem Lager hängt an diesem Tag einsam eine Fahne der Gewerkschaft Verdi, die seit Jahren für einen Tarifvertrag kämpft und erneut zu Streiks aufgerufen hat. Bis zu 600 Mitarbeiter folgten dem, sagt Schmidt. Man merkt, dass Amazon das Thema unangenehm ist. Kleber sagt dazu das, was Amazon immer wieder beteuert: „Wir zahlen in unseren Logistikzentren am oberen Ende von vergleichbaren Jobs, haben günstige Kantinen und ein professionelles Gesundheitsmanagement. Jetzt kommt der Sommer, und da wird es dank der Klimatisierung in unseren Logistikzentren nicht zu warm. Solche Investitionen sind in der Logistikbranche unüblich.“

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In Rheinberg steht eins von drei Logistikzentren in NRW.

Wer das Tempo sieht, mit dem hier gepackt wird, mit der die Menschen über die Gänge flitzen, gewinnt den Eindruck, dass sie getrieben sind.  Tim Schmidt, langjähriger Betriebsratsvorsitzender im Lager Rheinberg, sagt, dass Amazon Druck auf die Belegschaft ausübt. „Das System Amazon macht krank“, sagt der heutige Verdi-Sekretär dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Man gilt so lange als guter Mitarbeiter, wie man Höchstleistung bringt und nicht aus der Reihe tanzt.“ Über die Handcomputer würde der Weg der einzelnen Mitarbeiter nachvollzogen, sagt Schmidt. Wer zu lange mit seinen Kollegen spricht oder auf der Toilette ist, bekomme direkt Druck von den Vorgesetzten.

Lagerleiter Neumayer sagt, dass nicht überwacht werde, wer wie viele Pakete verpackt oder verlädt. Es scheint, als komme das System von Preisdruck und Tempo hier an seine Grenzen.

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Amazon-Deutschland-Chef Ralf Kleber