WirtschaftsschwächeDeutschland mal wieder „kranker Mann Europas“

Lesezeit 6 Minuten
Handwerker montieren Solarmodule auf dem Dach eines Wohnhauses.

Handwerker montieren Solarmodule auf dem Dach eines Wohnhauses.

Der deutschen Wirtschaft ging es schon mal besser. Wir sehen uns einige der Symptome an: Stagnation und Furcht vor Deindustrialisierung.

Vor fast 25 Jahren schickte die britische Wirtschaftszeitung „Economist“ ihre Reporter durch Deutschland. Sie sollten schauen, was aus dem „Home of the Wirtschaftswunder“ geworden sei. Was sie fanden, nannten sie den „kranken Mann Europas“.

Jetzt ist der Begriff wieder allgegenwärtig, denn schlechte Nachrichten häufen sich. Den Auslöser für eine inzwischen hitzige Debatte lieferte vor wenigen Wochen der Internationale Währungsfonds: Die deutsche Wirtschaft werde 2023 um 0,3 Prozent schrumpfen – als einzige unter mehr als 20 untersuchten Staaten und Regionen.

Aber es geht um mehr als Zehntel hinter dem Komma. Sie sind nur Symptom dafür, dass viele Umwälzungen in der Welt das deutsche Wirtschaftsmodell besonders treffen. Es ist sehr erfolgreich, sehr speziell und sehr bedroht.

Einst profitiert vom Boom Chinas – jetzt redet niemand mehr davon

Was da nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, hat Eigenheiten – den global ausgerichteten Mittelstand, die eng vernetzte Industrie mit ihren Wertschöpfungsketten, die Abhängigkeit von freiem Handel und fremden Rohstoffen.

Als dieses Modell um die Jahrtausendwende – nicht zum ersten Mal – in Bedrängnis kam, waren Globalisierung und die im Weltvergleich zu hohen Kosten der Grund. Fünf Millionen Menschen waren arbeitslos – immerhin eine Herausforderung, die sich so heute nicht stellt.

Damals half ein Mix aus Reform, Ehrgeiz und Glück. Die Agenda2010, in ihrer Wirkung bis heute umstritten, zeigte zumindest den Reformwillen. Unternehmen setzten wieder auf den Standort und wagten, die Globalisierung als Chance zu sehen. Chinas Boom belohnte sie reichlich. Schon bald war nicht mehr vom „kranken Mann“, sondern vom „Jobwunder“ die Rede.

Von China-Boom spricht niemand mehr. Dort schwächelt die Wirtschaft, und politisch gilt das Land als Großrisiko. Überhaupt ist der Globalisierungsboom vorbei. Die Pandemie hat gezeigt, wie anfällig weltweit durchoptimierte Netzwerke sind. Jetzt wird auf kürzere Wege und doppelte Strukturen geachtet. Aber Resilienz ist teuer. Genauso wie die Umstellung auf Klimaneutralität. Industrie braucht Energie, und die Energiewende beginnt gerade erst.

So scheint es manchmal auch mit der Digitalisierung zu sein. Technologie des 20. Jahrhunderts konnten die Deutschen sehr gut, vielleicht haben sie sich deshalb zu wenig um die des 21. gekümmert.

Das muss nun auch noch eine Generation ausbügeln, die deutlich kleiner ist als die vorherige – das Land wird eben nicht jünger.


Zähes Wachstum

Gefühlt war es eine Abfolge von schweren Krisen und dynamischer Erholung. Terroranschläge in den USA, Finanzmarkt- und später Euroschuldenkrise, dann Corona und nun Ukraine-Krieg – bewegte Zeiten, in denen es vier Jahre mit zum Teil deutlich schrumpfender Wirtschaft in Deutschland gab. Die Erholung danach machte dann viermal Wachstumsraten zwischen 3 und 4 Prozent möglich – üppig für eine reife Volkswirtschaft. Das Auf und Ab überdeckt, dass der langfristige Trend kümmerlich ist.

Im Durchschnitt wuchs die deutsche Wirtschaft seit der Jahrtausendwende jährlich um gut ein Prozent – trotz China-Boom und Nullzinsen. Für dieses Jahr sagt nicht nur der Internationale Währungsfonds (IWF) eine Schrumpfung voraus. Die beiden Winterquartale brachten bereits ein Minus, die Monate April bis Juni endeten – am Freitag offiziell bestätigt – mit Nullwachstum. Damit hinkt Deutschland auch in der Eurozone hinterher, und das dürfte so bleiben: Der IWF erwartet zwar eine Belebung und für 2025 rund 2 Prozent Wachstum, aber dann werde es sich wieder abschwächen. Für die Eurozone liegen die Prognosen deutlich höher.


Industrieproduktion

Dass der deutschen Wirtschaft Impulse fehlen, liegt auch an der hier besonders wichtigen Industrie. Bereits seit Anfang 2018 sei eine industrielle Rezession im Gange, schrieb Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), in einem Beitrag für das „Handelsblatt“. Damals gab es kein einschneidendes Ereignis, es begann einfach eine konjunkturelle Abschwächung. Sie führte in die Corona-Rezession, aber danach wurde das alte Niveau nicht wieder erreicht. Das „erstickt jede Hoffnung auf eine starke und nachhaltige Wende im Keim“, schreibt Hüther und fordert Steuerentlastungen.

Ein anderer Faktor sind die Energiepreise. Bei den energieintensiven Betrieben fällt die Produktion seit Ende 2021 deutlich, denn schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine stiegen die Preise. Langfristig gilt diese Anfälligkeit auch als Chance: Für die deutsche Industrie ist der Druck besonders groß, Energie effizient einzusetzen, in moderne Technik zu investieren und Geschäftsmodelle zukunftsfähig anzupassen.


Begrenzt innovativ

In ihrer Paradedisziplin ist die deutsche Industrie die innovativste der Welt. In seinem Innovationsindikator sieht sie jedenfalls der eigene Verband BDI bei Produktionstechnologien an der Weltspitze. Das hat inzwischen auch viel mit Digitalisierung und Vernetzung zu tun – Stichwort Industrie 4.0. Auf anderen Feldern wird daraus aber offenbar wenig gemacht, denn bei der digitalen Vernetzung reicht es nur zum zehnten Platz im Innovationsranking.

Weiter vorn finden sich nicht nur China und die USA, sondern auch Überraschungskandidaten wie Finnland und die Schweiz. Nur zu Rang 14 reicht es für die deutsche Industrie in der Biotechnologie. Weit vorn ist hier seit Jahren das kleine Dänemark mit vielen Betrieben und starker Forschung im Pharmasektor und rund um die Lebensmittelindustrie.


Doppelter Umbruch

Der Fahrzeugbau ist die mit Abstand größte Industrie in Deutschland und wichtiger Kunde der nächstgrößeren Branchen Maschinenbau, Chemie und Elektrotechnik. Automobilcluster dominieren ganze Regionen. Das Geschäft hat sich immer mehr vom stagnierenden Europa ins boomende China verlagert, aber das brachte weiter üppige Gewinne für deutsche Konzernkassen. Doch jetzt übernehmen chinesische Hersteller ihren heimischen Markt, es tobt ein Verdrängungskampf. Gleichzeitig verlieren die deutschen Hersteller ihren wichtigsten Wettbewerbsvorteil: das Verbrenner-Know-how.

Die Umstellung auf E-Antrieb und digitale Vernetzung hat begonnen – mit ungewissem Ausgang. Gelingt sie, hat das trotzdem Folgen: Wegen der einfacheren Technik im E-Auto werden in der Produktionskette Hunderttausende Arbeitsplätze überflüssig.


Ein Knick – aber wie stark?

Fachkräftemangel steht immer noch weit oben auf der Sorgenliste der Unternehmen – obwohl in den vergangenen Monaten andere Probleme hinzugekommen sind. Schrumpft aber die arbeitende Bevölkerung, gilt das tendenziell auch für die Wirtschaftsleistung. Es sei denn, die Produktivität – also der Output pro Kopf – wächst im Gegenzug. Das ist in den vergangenen Jahren aber kaum geschehen. Ein Grund könnten auch zu geringe Investitionen in neue, effizientere Technologien sein.

Ein weiterer Effekt des demografischen Wandels: Zuerst steigt der Anteil älterer Beschäftigter und dann der Anteil der Rentnerinnen und Rentner, die versorgt werden müssen. Geschieht nichts, wird die Zahl der Erwerbstätigen nach Schätzung der „Wirtschaftsweisen“ schon 2030 um mehrere Millionen niedriger sein als heute und bis 2060 um ein Drittel schrumpfen. In Szenarien haben sie den Einfluss von Zuwanderung und höherer Erwerbsquote – zum Beispiel mehr Frauen in Vollzeitjobs – abgeschätzt und halten auch eine stabile Entwicklung für möglich.

KStA abonnieren