Das Leben, ein SpielHinreißende Romane übers Gaming

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Illustration: Eine Frau sitzt an einem Schreibtisch mit Computer, ein Bücherregal im Hintergrund zu sehen.

Computerspiele nehemn in unseren beiden Literaturipps eine

Computerspiele und Romane – passt das zusammen? Oh, ja! In diesem Jahr sind zwei hinreißende Bücher erschienen, in denen das Gaming eine wichtige Rolle spielt. Tonio Schachinger hat für seinen Roman am Montag den Deutschen Buchpreis erhalten.

Erinnerungen haben oft die schöne Eigenschaft, das Positive in den Vordergrund zu stellen. Das Negative hingegen verschwindet dann hinter einem rosaroten Nebel des „Das Schöne war wunderschön und das Schlimme gar nicht so schlimm.“

Das gilt auch für die Schulzeit. Sie erscheint uns häufig als eine Zeit, in der wir ohne große Verpflichtungen, ohne den „Ernst des Lebens“, den die Älteren so oft beschworen haben, ohne die heute so knirschend mahlenden Mühlen des Alltags leben durften. Die Unsicherheiten während des Heranwachsens, die schmerzenden und komplizierten ersten Lieben, die schlecht gelaunten Ausfälle von Lehrern, die üblen Mitschüler ignorieren wir oft und gern.

Die Schulzeit entromantisieren

Da kann es nur gut sein, wenn Literaten und Schriftstellerinnen ab und an mit einem Roman die Schulzeit entromantisieren. Die Literatur über Lehrerinnen, Schüler und Internate haben eine lange Tradition. Hermann Hesses „Unterm Rad“ gehört dazu, Friedrich Torbergs „Der Schüler Gerber“ oder Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Der Schriftsteller Tonio Schachinger fügt mit „Echtzeitalter“ diesem Genre nun einen sehr aktuellen und klug erzählten Roman hinzu. Für das Buch hat er am Montag den Deutschen Buchpreis erhalten.

In Schachingers Roman begleiten wir den Schüler Till Kokorda durch seine acht Jahre auf der Wiener Eliteschule Marianum – der Romanautor selbst hat ein solches Internat besucht. Hier wird die zukünftige österreichische Elite unterrichtet und auch erzogen, all die Mediziner, Juristen und Diplomaten von morgen. Till stammt nicht aus einem reichen und ambitionierten Elternhaus. Und so denkt er über viele seiner Mitschülerinnen und Mitschüler aus einer natürlichen Distanz heraus. Er stellt die – natürlich rhetorische – Frage, wie wohl man sich fühlen könne „zwischen Kindern, die sich schon mit zehn so kleiden, wie sie es ihr restliches Leben über tun werden: in grüne Polohemden und braune Segelschuhe, rosa Poloblusen und weiße Jeans“.

Aber die Mitschüler sind gar nicht das Schlimmste, es sind ja auch ein paar Freunde darunter. Schlimm ist Tills Deutsch- und Klassenlehrer Dolinar. Er scheint mit seinem Sadismus, seinen elitär-bildungsbürgerlichen Ansprüchen und seinen ständigen Strafandrohungen und Strafexpeditionen ins Reich des Nachsitzens tatsächlich einem Roman des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts entsprungen. Der Rohrstock fehlt, aber ansonsten würde er seine Rolle auch gut in Michael Hanekes düsterem Film „Das Weiße Band“ spielen können.

Dolinar hat klare Prinzipien. Für die Literatur, die er in seinem Unterricht durchnimmt, gelten drei goldene Regeln: „nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclam-Heft erhältlich ist“. Und so ist auch eines der schwersten Vergehen, die Dolinars Klasse verüben kann, das gelbe Literaturheft zu Hause zu vergessen.

Wunderbar komisch, aber nie albern erzählt Schachinger, was sich die Jungs – natürlich sind es in erster Linie Jungen wie Palffy, Ertl, Khakpour und Blindstein, die ihre Sachen zu Hause liegen lassen – einfallen lassen, um doch noch schnell in der Pause aus dem Internat zu entkommen, um im nächsten Buchladen eine Reclam-Ausgabe nachzukaufen. Denn das Verlassen des Schulgeländes steht natürlich auch unter Strafe.

Spalt zwischen den Generationen

Es ist schwierig, als Heranwachsender unter all diesem Druck klarzukommen. Zudem leidet Till noch immer unter dem Tod seines Vaters – die Sequenzen über die anhaltende Sehnsucht nach dem Vater gehören zu den stärksten dieses an starken Szenen wirklich nicht armen Buchs. Aber Till hat ein Ventil, er gibt sich Computerspielen hin. Vor allem in „Age of Empire 2“ ist er gut, nein, in Wahrheit ist er Weltklasse und spielt weltweit Turniere. Von einem Wettkampf in Shanghai wird er ein merkwürdiges Virus mitbringen, seine Lunge ist betroffen. Wir schreiben das Jahr 2020. Dieser Bezug zur Gegenwart ist nicht der einzige, auch die österreichische Ibiza-Affäre wird thematisiert, Schachingers Roman spielt halt in unserem Echtzeitalter.

Für Tills Liebe zum relativ neuen Medium Computerspiel haben die Vertreter der alten Welt, in erster Linie seine Mutter und der Lehrer Dolinar, kein Verständnis. Die Mutter versucht es zumindest und entdeckt „Candy Crush“ für sich. Aber letztlich wird hier der tiefe Spalt der Generationen deutlich, von dem heutige Eltern und ihre Kinder aus ihrer jeweiligen Perspektive ebenfalls ganze Romane erzählen könnten. Oder um es mit Schachinger zu sagen: „Tills Eltern haben selbst nie irgendein Computerspiel genug verstanden, um Spaß daran zu haben, oder nie genug Spaß daran entwickelt, um es verstehen zu wollen. Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.“

Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.
Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“

Computerspiele stehen mehr noch als in „Echtzeitalter“ im Mittelpunkt eines anderen, ebenfalls hinreißenden Romans. In Gabrielle Zevins „Morgen, morgen und wieder morgen“ geht es um Sam und Sadie, die beide Computerspiele lieben und später auch solche schreiben. Die beiden lernen sich als Kinder in einem Krankenhaus kennen. Sam wurde bei einem Autounfall, bei dem seine Mutter ums Leben kam, schwer am Fuß verletzt – er wird sein ganzes Leben darunter leiden. Sadie kommt in dasselbe Krankenhaus, weil ihre Schwester an Krebs erkrankt ist. Die beiden Kinder begegnen einander im Computerspielraum des Hospitals – bei unzähligen Partien „Super Mario“.

Auch wenn ihre gemeinsame Zeit zunächst einmal abrupt endet, treffen beide sich nach einigen Jahren wieder. Was folgt, ist eine Freundschaft, die fliegende Höhen erreicht und abgrundtief traurige Täler durchschreitet. Auch in Zevins Roman ist das Spielen eine Art Lebensersatz, ein „Second Life“, eine Fluchtmöglichkeit. Sam etwa sagt mit seinem zerstörten Fuß: „Das Einzige, was mich davon abgehalten hat, sterben zu wollen, war die Möglichkeit, meinen Körper zu verlassen und zeitweise in einen anderen zu schlüpfen, der perfekt funktioniert – besser als perfekt sogar –, und Probleme zu lösen, die nicht meine eigenen waren.“

Neues Level in der Lektüre erreichen

Computerspiele bieten ja zudem die Möglichkeit, Fehler einfach rückgängig zu machen, die Zeit zurückzudrehen und neu anzufangen. „Falls etwas schiefgeht, kann man ja immer noch zum letzten Speicherpunkt zurückkehren und von vorne beginnen.“ Eine schöne Vorstellung.

Das klingt alles recht nerdig, aber das ist es überhaupt nicht. Gabrielle Zevin hat in ihrem rührenden und zutiefst bewegenden Roman mit Homer- und Shakespeare-Bezügen ein Buch über Freundschaften, unerwiderte Liebe, die Macht der Geduld und vieles mehr geschrieben. Das Wort „Computerspiele“ muss hier niemanden, der vielleicht wenig davon versteht, vom Lesen abhalten. Wer den Roman zur Hand nimmt, wird in seiner persönlichen Lektüreerfahrung ein neues Level erreichen.

Auch bei Tonio Schachinger muss sich niemand abgeschreckt fühlen, wenn es ums Gaming geht. Im Gegenteil: Das Buch kann vielleicht sogar helfen, die eigenen Kinder oder den Jugendlichen von nebenan besser in seiner Leidenschaft, die er vor dem Monitor verbringt, zu verstehen. So oder so ist Tonio Schachinger mit seinem Buch „Endzeitalter“ ein würdiger Buchpreisträger. (RND)


Tonio Schachinger: „Echtzeitalter“. Rowohlt. 368 Seiten, 24 Euro.

Gabrielle Zevin: „Morgen, morgen und wieder morgen“. Eichborn. 560 Seiten, 25 Euro.


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