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Ernährungspsychologe empfiehltIch bin, was ich esse

Lesezeit 5 Minuten

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat rotes Fleisch kürzlich als wahrscheinlich krebserregend eingestuft. Essen Sie noch Fleisch?

Ja, wenn es gut ist. Ich finde Fleisch aber oft langweilig. Die meiste Wurst schmeckt doch fad. Es kränkt mich, wenn Lebensmittel schlecht sind. Weil ich selber gerne koche, bin ich da ein bisschen etepetete.

Es geht Ihnen also nicht um den Gesundheitsaspekt?

Nein. Der menschliche Körper ist bei der Ernährung relativ tolerant. Der Effekt, der in der WHO-Studie bezüglich des Fleischkonsums herausgearbeitet wurde, ist nicht besonders relevant. Im Vergleich zu anderen Risikofaktoren spielt Fleisch keine große Rolle.

Warum sind die Reaktionen auf die WHO-Warnung damals denn so heftig ausgefallen?

Es gibt im Moment ein Klima, in dem eine starke Sensibilität bezogen auf die Ernährung da ist. Hinter uns liegt eine lange Zeit, in der es nicht mehr um Politik ging. Als nämlich die großen Utopien, also Sozialismus und Kommunismus, gescheitert waren, hat man sich deshalb vom Körper Erlösung erhofft. Die 68er-Generation wollte die Sexualität befreien. Aber wie sollte das funktionieren? Dann ist die Hoffnung entstanden, dass das Essen eine Identität bieten könnte. Unbewusst hängt man Fantasien an, dass man sozusagen unsterblich wird, wenn man sich richtig ernährt. Man glaubt, sich über die Ernährung perfekt formen zu können. Aber das funktioniert nicht.

Ernährung ist also oft eine Frage der Ideologie?

Ja. In Berlin kann man stark beobachten, wie sich Gruppen bilden. Zum Beispiel gibt es Veganer-Wohngemeinschaften, die nur ihresgleichen aufnehmen. Wenn Sie ins Netz schauen, sehen Sie, dass zwischen Anhängern verschiedener Ernährungsformen regelrecht Kriege ausgetragen werden, es gibt Freund und Feind. Veganer fühlen sich moralisch besser als Vegetarier. Vegetarier fühlen sich moralisch besser als Fleischesser. Da die politischen Ideologien aufgebraucht waren, mussten eben andere Schlachtfelder gefunden werden, die ideologisch aufgeladen werden.

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Dienen spezielle Ernährungsweisen dazu, sich moralisch überlegen zu fühlen?

Es geht oft darum, möglichst unschuldig oder rein zu sein. Nach dem Motto: Ich begehe keine Sünde, wenn ich esse. Ideologie hat auch mit der Verleugnung von Schuld zu tun. Es ist aber eine Milchmädchenrechnung zu glauben: Ich bin unschuldig, weil ich nur Pflanzen esse. Für Platon waren Pflanzen auch Lebewesen. Jeder, der isst, macht sich schuldig. Essen ist immer ein aggressiver Akt.

Das geht stark in den religiösen Bereich hinein.

Absolut. Die christlichen Religionen sind etwas erlahmt in ihrer Wirkkraft. Die verschiedenen Ernährungslehren haben Züge einer Ersatzreligion. Wenn man etwas Verbotenes isst, spricht man daher auch schnell von Sünde.

Dazu passt, dass derzeit offenbar Abstinenz angesagt ist. Bei speziellen Ernährungsweisen verzichtet man auf vieles. Zudem sind Produkte beliebt, die frei von irgendetwas sind, etwa frei von Laktose oder Gluten. Handelt es sich um eine moderne Form von Askese?

So kann man das sehen. Eine Zivilisation wird ja zusammengehalten durch bestimmte Werte. Es geht darum, die europäische Tradition der Mäßigung zu bewahren. Der Gedanke des Verzichts hat das ganze Abendland beherrscht.

Wären Glaubenskämpfe wegen der Ernährung denkbar, wenn wir zu wenig zu essen hätten?

Sicher nicht. Die verschiedenen Ernährungsformen sind Resultat des Überflusses. Überspitzt gesagt: Die Lebensmittelindustrie beschert uns den Vegetarismus und Veganismus. Derzeit hat man zwischen 170 000 Lebensmittelprodukten die Wahl. Vor 200 Jahren haben die meisten Deutschen tagein, tagaus das Gleiche gegessen: Kohlenhydrate, ein bisschen Gemüse dazu und, wenn es ihnen gut ging, ein Stück Fleisch. Da gab es keine Auswahl. Man hatte Angst zu verhungern oder zumindest zu wenig zum Essen zu haben. Die moderne Askese ist eine Gegensteuerung zum Überfluss.

Sind Nahrungsmittelunverträglichkeiten auch eine Modewelle?

Von 100 Menschen, die sagen, dass sie eine Unverträglichkeit haben, kann der Arzt nur bei zehn bis 20 Prozent etwas feststellen. Viele denken also nur, dass sie daran leiden. Dahinter steckt der Gedanke: Ich kann mich als besonderen Menschen kreieren, indem ich eine Unverträglichkeit habe. Wir benutzen Essen heute also, um einzigartig sein. Vor 200 Jahren wäre es ein Todesurteil gewesen zu sagen: Ich kann Kartoffeln nicht essen, weil ich sie nicht vertrage. Das heißt aber nicht, dass es Zöliakie und Laktoseintoleranz nicht tatsächlich gibt.

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Auch Kinder sind beim Essen oft schwierig. Manche scheinen außer Nudeln nichts mögen. Sind Kinder nun mal langweilig? Oder sind die Eltern schuld, die ihnen jeden Tag Nudeln kochen?

Ich denke schon, dass Eltern sich von den Kindern oft etwas diktieren lassen. Man sollte Kinder stärker darin unterstützen, sich für verschiedene Geschmacksrichtungen zu öffnen. In Kitas etwas zuzubereiten ist extrem schwierig geworden, weil jeder etwas anderes nicht mag. Natürlich lernen Kinder auch von ihren Eltern. Wenn sie Ticks haben, übernehmen Kinder das.

Die Meinungen darüber, was gesunde Ernährung ist, gehen stark auseinander. Kann man auch deshalb so schön darüber streiten, weil bei diesem Thema die Datenlage oft schlecht ist?

Den Begriff „gesunde Ernährung“ können wir eigentlich fallen lassen. Niemand weiß, was wirklich gesund ist. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich. Es gibt zum Beispiel solche, bei denen eine Tomate zu einem Insulinanstieg führt. Ernährungsempfehlungen, die für die ganze Bevölkerung gelten, halten neuen Forschungsergebnissen nicht stand. Allenfalls gibt es wenige grundlegende Aussagen wie „viel Gemüse ist gut“. Mehr lässt sich nicht formulieren. Dass ungesättigte Fettsäuren so gesund sind, hat sich nicht bestätigt, ebenso wenig, dass durch hohen Verzehr von gesättigten Fettsäuren die Herzinfarktrate steigt. So gibt es viele Dinge, die ein paar Jahre gelten, dann aber überholt sind. Statt allgemeingültige Empfehlungen festzulegen, geht es heute darum, die richtige Ernährung für den einzelnen Menschen herauszuarbeiten.

Was bedeutet das? Sollte jeder zur Ernährungsberatung gehen?

Wenn sich jemand unwohl fühlt oder besondere Probleme hat, würde ich auf jeden Fall eine Ernährungsberatung vorschlagen. Die meisten Menschen können aber für sich selbst herausfinden, was ihnen bekommt. Ich empfehle, mehr Aufmerksamkeit auf das Essen zu verwenden.

Man kann sich auch einiges einbilden. Wenn man ein paar Blähungen hat, weiß man nicht, wo das herkommt. Vielleicht von der Kuhmilch? Oder von einer Gurke?

Ich habe keine Hypochondrie predigen wollen. Die Gefahr ist immer, dass so etwas umkippt. Ich empfehle einen gelassenen, aber aufmerksamen Umgang mit der Ernährung.