Jenseits von HollywoodWarum diese europäischen Filme einen Blick wert sind

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Eine Lola-Trophäe.

Eine Lola-Trophäe.

  • Der Oscar ist der wohl bekannteste Filmpreis der Welt. Häufig kritisiert wird jedoch der starke Fokus auf Hollywood-Produktionen.
  • Dabei hat auch Europa einige überzeugende Filmproduktionen anzubieten, wie erst kürzlich bei der Verleihung des deutschen Filmpreises deutlich wurde.
  • Eine biografische Dokumentation, ein Musikerporträt, französische Romantik und englischer Horror: Unsere Autoren haben eine Auswahl europäischer Glanzlichter zusammengestellt.

Der deutsche Filmpreis, nach historischem Vorbild kokett und auch ein bisschen liebevoll Lola genannt, musste sich in diesem Jahr coronabedingt in Quarantäne begeben. Keine mondäne Gala, keine Umarmungen, kein Virenaustausch unter deutschen Filmstars – stattdessen gab es eine Fernsehübertragung, die mit gequälter Lockerheit und schlechten Zuschauerzahlen vor allem eines demonstrierte: dieser Preis interessiert die Leute immer weniger, und das vor allem, seit er sich als Auszeichnung neu erfunden hat, die von der Branche für die Branche verliehen wird. Denn genau das ist der Fall, wenn die in der Deutschen Filmakademie in Berlin organisierten Filmschaffenden selbst über die Ehrungen entscheiden, die immerhin mit Förderprämien für die nächste Produktionen verbunden sind.

Wie auch immer. Den diesjährigen Gewinner, „Systemsprenger“, haben wir auf diesen Seiten bereits vorgestellt – ebenfalls in der Kategorie „Bester Film“ war Jan Ole Gersters „Lara“ nominiert, den wir Ihnen heute anlässlich seines DVD-Starts ans Herz legen. Dass Corinna Harfouch, die Hauptdarstellerin, dann schon nicht mehr in der entsprechenden Kategorie als Nominierte auftauchte, sagt auch schon wieder einiges über den Preis. Nichts Gutes. Immerhin hat die Akademie mit „Born in Evin“ in der Dokumentarfilm-Sparte eine gute Wahl getroffen. Die Schauspielerin und Regisseurin Maryam Zaree auf der Suche nach ihren Wurzeln im Iran – daraus gewinnt diese deutsch-österreichische Koproduktion ein erkenntnisreiches Porträt. Auch diesen Film stellen wir in diesem Heimkino-Magazin, neben einigen anderen europäischen Glanzlichtern, vor.

1.) Born in Evin

Die Schauspielerin Maryam Zaree ist im Gefängnis geboren. Mit ihrem Dokumentarfilm geht sie auf Spurensuche.

Als gefragte Schauspielerin ist Mayram Zaree („4 Blocks“; „Systemsprenger“) darin geübt, Geschichten zu erzählen. Für ihren ersten eigenen Dokumentarfilm möchte die 36-Jährige aber auf ihre eigene Geschichte zurückgreifen. Diese begann unter dramatischen Umständen. Geboren wurde Mayram 1984 in Evin, einem berüchtigten Gefängnis in Teheran. Hier wurden kurz nach der islamischen Revolution 1979 Tausende Oppositionelle inhaftiert. Fast alle wurden gefoltert, viele hingerichtet. Mayrams Eltern, Nadress und Kasra, saßen in getrennten Zellenblöcken im Foltergefängnis.

Über die dramatischen Umstände von Mayrams Geburt und ihr erstes Lebensjahr, das sie bis zu ihrer Übergabe an die Großeltern in Evin verbringen musste, hat die Mutter nie gesprochen. 1985, am Heiligen Abend, kamen Mutter und Tochter nach Frankfurt. Jahre später durfte auch ihr Vater Kasra nach Deutschland ausreisen. Inspiriert von dem zweiten Ehemann ihrer Mutter, dem renommierten Psychoanalytiker Kurt Grünberg, der über die Traumata von Shoah-Überlebenden  forscht, möchte auch Mayram mit Hilfe szenischer Erinnerungen und Augenzeugenberichten diese Lehrstelle in ihrer Biographie schließen.

Das Schweigen verstehen

Dass dies kein leichtes Unterfangen wird, erfährt sie schon zu Beginn ihrer filmischen Reise, als sie ihre Mutter beim Abspielen des Trailers zum Dokumentarfilm trifft. Die Mutter, die als Doktor der Psychologie mittlerweile in der hessischen Lokalpolitik tätig ist, kann und will ihrer Tochter nichts von den damaligen Geschehnissen erzählen. Ja, sie wird sogar wütend, als ihre Tochter daraufhin Freundinnen und Verwandte in Paris besucht, um etwas über die Umstände ihres ersten Lebensjahres zu erfahren. So entwickelt sich die Dokumentation zu einem emotionalen  Drahtseilakt.

Von einer renommierten Soziologin erfährt die Regisseurin über die Zustände in den iranischen Gefängnissen, dass auch Schweigen beredt sein kann. In einer Gesellschaft wie der iranischen, die vor und nach dem Sturz des Schahs und der Machtübernahme Khomeinis despotische Züge trägt, gehört das Schweigen zur kollektiven Erblast der Geschichte. Dabei kristallisiert sich im Laufe des Films immer wieder heraus, dass es umso schwerer ist, Dinge zur Sprache zu bringen, je näher sich die Beteiligten sind. Vieles bleibt bis zum Schluss  ungesagt, auch wenn so manch dramatischer Zeugenbericht wie der ihres Vaters zur Sprache kommt.

Ihr vorab gesetztes Ziel hat Mayram Zaree vielleicht nicht erreicht, gescheitert ist dieser hochinteressante und bewegende Dokumentarfilm deshalb aber keinesfalls. Von Norbert Raffelsiefen.

imeo: Born in Evin D/Au 2019, 95 Minuten, R Maryam Zaree Die Schauspielerin Mayram Zaree versucht in ihrem aufwühlenden und persönlichen Film, den Umständen ihrer Geburt im iranischen Foltergefängnis Evin auf die Spur zu kommen.

2.) Lara

Corinna Harfouch als Musikvirtuosin, die das Leben maßlos enttäuscht hat

Wenn sie aufwacht und widerwillig  die Augen öffnet, dann fällt ihr Blick als erstes dorthin, wo etwas nicht mehr steht. Ihr Klavier, die leere Mitte des Raums und ihrer ganzen Welt. Nur der mit grünem Leder bezogene Schemel steht noch an der Wand, traurig, als hätte er einen Gefährten verloren.

Lara ist eine harte Frau, wie alles andere auch starrt sie das abwesende Klavier feindselig an. Dann steht sie am offenen Fenster, Jan Ole Gerster inszeniert dies vor einer weit entfernten Stadtkulisse von Berlin im frühen Dämmerlicht wie eine klassische Selbstmordsituation, doch weil es zufällig an der Tür klingelt, geht Lara noch einmal in diesen Tag hinein. Es ist ihr 60. Geburtstag, viel wichtiger aber ist am Abend das Konzert ihres einzigen Sohnes. Ihn hat sie selbst an die Musik herangeführt, nun fühlt sich Viktor vom Ehrgeiz der Mutter derart abgestoßen, dass er nahezu jeden familiären Kontakt aufgegeben hat.

Menschen ohne Empathie

Mit seinem Film „Oh Boy“ hat Jan Ole Gerster vor einigen Jahren Furore gemacht. Darin streunt ein junger Mann – Tom Schilling, der in „Lara“ nun den Sohn Viktor spielt – über einen ganzen Tag hinweg mehr oder weniger ziellos durch ein schwarz-weißes Berlin. Nun ist es Corinna Harfouch, die in der Stadt etwas zu suchen scheint, von dem sie nicht weiß, was es sein könnte. Die Farben sind wieder exquisit: Das Rostbraun ihres Mantels fügt sich harmonisch zum Herbstlaub in den Straßen, und im Herbst ihres Lebens ist ja auch Lara angekommen, spätestens an diesem Geburtstag. Ansonsten aber ist nichts harmonisch in diesem Film.

Dem Verbindenden der Musik steht in himmelschreiendem, schon nicht mehr bloß ironischem Widerspruch die totale Beziehungsunfähigkeit der Akteure gegenüber. Es sind Menschen ohne Empathie, einmal zerbricht Lara gehässig den Geigenbogen der jungen Frau, die sich ihr als Freundin ihres Sohnes vorstellt, als diese kurz auf die Toilette verschwindet.

Ohne Gefühle kommen seine Figuren offenbar doch nicht aus, dies deutlich zu machen, ist die große Leistung Jan Ole Gersters: Hinter all ihrem Ehrgeiz, ihrem kranken Verlangen nach perfekter Musik und makelloser Schönheit, ist Lara zerfressen von Eifersucht, unerfüllter Liebe und enttäuschtem Lebensmut.

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Es ist die Demontage eines Charakters, die Gerster betreibt, er zeigt die Verletzlichkeit einer Frau, die selbst dafür lebt, andere zu verletzen, und dass diese Entkleidung einer rauen Fassade nicht in Schadenfreude endet und im klammheimlichen Triumph über einen tyrannischen Geist, liegt neben seinem eigenen Gespür für Nuancen und überraschende Wendungen am überragenden Auftritt Corinna Harfouchs.

Wie eine einsame Wölfin streift sie durch die Großstadt, aber wenn sie im Konservatorium ihrem ehemaligen Klavierlehrer begegnet, der nun ein alter, verbitterter Mann ist, dann scheinen ihr die herben Gesichtszüge zu entgleiten. Dann nämlich steigt die Erinnerung hoch, wie er sie selbst in ihrer Ambition gebrochen hat. Musik, das lernt man in diesem Film, ist nichts für allzu empfindliche Seelen. Von Frank Lobert.

DVD Studiocanal Lara Deutschland 2019, 98 Minuten, R Jan Ole Gerster, D Corinna Harfouch, Tom Schilling, Rainer Bock Sensibles Porträt einer vom Leben enttäuschten  Frau, überragend gespielt von Corinna Harfouch, die all die Brüche dieses Charakters deutlich macht.

3.) Schloss des Schreckens

Kein Film, der sich  allein im Dunkeln gucken lässt

Die Gouvernante Miss Giddens tritt ihre neue Stelle in Bly House an, wo sie die Kinder Miles und Flora unterrichten und erziehen soll. Schon bald ahnt sie, dass sich in dem entlegenen Landhaus Seltsames zuträgt. Die Kinder verhalten sich auf bisweilen verstörende Weise nicht altersgemäß, eine unheimliche Melodie erklingt aus dem Nichts.

Miss Giddens erfährt vom Onkel der Kinder, dass ihre Vorgängerin Miss Jessel ein Verhältnis mit dem brutalen Gärtner Quint unterhielt und beider Leben unter bizarren Umständen ein Ende fand. In Miss Giddens keimt ein grausiger Verdacht: Könnte es sein, dass die Kinder von den Geistern des unglückseligen Liebespaares besessen sind? Noch zweifelt sie, dann folgt sie Floras Blick nach draußen und sieht eine Frau im Teich vor dem Haus.

Geister oder Einbildung?

Der englische Gruselfilm hatte sich am Ende der 1950er Jahre mit den Hammer-Filmen zu einer knallbunten Renaissance klassischer Horrorgestalten aufgeschwungen. Der Gänsehäuter viktorianischer Prägung hatte ausgedient. Dann kam dieser Film, für den John Mortimer und Truman Capote nach der Henry-James-Novelle „Die Daumenschraube“ ein Drehbuch schrieben, das die Manifestation von Geistern ausdrücklich vorsieht, zugleich aber immer auch die Möglichkeit offen lässt, dass das gesamte Geschehen der Einbildung einer sexuell frustrierten Frau entsprungen sein könnte.

Aber ob nun mit oder ohne freudianischen Subtext ist dies kein Film, der sich einfach so allein im Dunkeln gucken lässt. Der nüchterne Regiestil, Deborah Kerrs fragile Darstellung am Rande einer nur mit Mühe unterdrückten Hysterie und die Cinemascope-Bilder mit ihren kristallin anmutenden Schwarzweiß-Kontrasten addieren sich zu einer Atmosphäre von beklemmender Bösartigkeit.

Die Band Black Sabbath ließ sich 1970 davon für das Album-Cover ihrer ersten LP inspirieren. „Schloss des Schreckens“ (Originaltitel:  Die Unschuldigen) war im gleichen Jahr Teil der ersten Staffel der legendären ZDF-Reihe „Der phantastische Film“. Von Uwe Mies.

Capelight / Al!ve: Schloss des Schreckens GB 1961 100 Minuten R Jack Clayton D Deborah Kerr, Peter Wyngarde Gruselfilmklassiker, der viktorianische Geisterfurcht und freudianischen Alpdruck in Bildern von eisiger Schwarzweiß-Atmosphäre verdichtet.

4.) Einsam Zweisam

Zwei junge Balkonnachbarn in Paris finden erst über allerlei Umwege zueinander

Remy ist 30, beruflich flexibel, ein netter Typ, aber ziemlich schüchtern und seelisch etwas angeknackst, was in der Summe zur Folge hat, dass Remy nicht sonderlich aufgeschlossen den Leuten um ihn herum begegnet. Ihm ist klar, dass man so keine Frau fürs Leben kennenlernt. Andererseits muss man aber auch nicht auf Teufel komm raus überstürzen. Ein Kater zur Untermiete ist deshalb erst einmal eine gute Übergangslösung.

Melanie ist 30, wissenschaftliche Assistentin und obwohl sie immer Leute um sich herum hat, würde sie doch viel lieber den einen fürs Leben kennenlernen. Remy und Melanie leben in Paris und hätten sogar eine perfekte Aussicht auf Montmartre, wenn es in dieser Richtung Fenster gäbe.

Leider weisen ihre Balkone auf den Verschiebebahnhof auf der anderen Seite. Tatsächlich sind Remy und Melanie unmittelbare Balkonnachbarn, laufen sich auch immer wieder mal über den Weg, sie begegnen sich nur eben nicht. An einem Tag in der Woche gehen beide zu Psychiatern. Sie wissen nicht, dass die Psychiater einander kennen.

Slapstick mit Charme

Frankreichs charmanter Filmautor Cedric Klapisch („Der Wein und der Wind“) lässt auch in seinem Film in melancholischer Tönung immer wieder Ironie und sanften Slapstick aufblitzen. Die Grundidee entlieh Klapisch beim Argentinier Gustavo Taretto, der 2011 in „Medianeras“ zwei junge Nachbarn erst über allerlei Umwege zueinander finden ließ. Dies wird nun mit einer ähnlichen und doch anderen Geschichte pariserisch weiterentwickelt.

Rund ums sympathische Pärchen wurden superbe Nebenrollen angelegt, darunter die nur scheinbar karikaturesken Psychiater (Francois Berléand und Camille Cottin) und Simon Abkarian als weltgewandtes Lebensmittelhändler aus dem Orientviertel. Die Zwischentöne in den Blicken und den versteckten Gesten eröffnen das Bild, dass letztlich immer alle auf der Suche nach dem besseren Sein für sich und andere sind; Katzen, Musik und Tanz inklusive. Neu ist das alles nicht, aber unverschämt charmant. Von Uwe Mies.

Studiocanal: Einsam Zweisam F 2019 106 Minuten R Cedric Klapisch D Francois Civil, Ana Girardot, Eye Haidara Absolut liebenswürdiges Liebesmärchen für Erwachsene, charmant ein gependelt zwischen Melancholie und Slapstick und charmant gespielt.

5.) Junk Love

Junk Love 2

Sex, Drogen, Alkohol, wilde Parties: Pierre de Suzzoni beschwört in seiner erst zweiten Regiearbeit seit 2002 alle Schemata des entfesselten Liebesfilms

„Wie viele Punkte gibst du mir auf einer Skala von eins bis zehn?“ Irgendwann kommt es immer zu dieser Frage, und dann wird Sarah verzweifelt ins Gesicht ihres Gegenübers schauen, weil sie insgeheim ahnt, dass die Antwort nicht so ausfällt, wie sie sich das erwünscht.

Sarah arbeitet tagsüber als Krankenschwester, wird gelobt für ihr Zugewandtsein. Den Rest des Tages ist sie unterwegs, immer auf der Suche nach der einen großen Liebe. Die Beziehung mit Vince brach sie abrupt ab, dann trifft sie auf Zack, der so ganz anders als alle anderen vor ihm ist. Und doch wird auch diesmal wieder die eine entscheidende Frage im Raum stehen, nur werden die Konsequenzen ungleich dramatischer sein.

Gefährlicher Strudel

Die Jagd nach der perfekten Liebe ist ein gefährlicher Strudel für alle, die sich bedingungslos darin verlieren. Diese Erkenntnis führt gerade im Kino immer wieder zu herausfordernden Extremexistenzen, deren hitzige Befindlichkeit sich in visuellen Explosionen entlädt.

Pierre de Suzzoni beschwört in seiner erst zweiten Regiearbeit seit 2002 alle Topoi des entfesselten Liebesfilms – Sex, Drogen, Alkohol, wilde Parties, eskalierende Verzweiflung, das alles eingefangen in grellen Neonfarben und gespiegelt im Gesicht einer betont erotisch herausgeputzten Protagonistin, die aufregend bunte Perücken trägt.

Laura Hamisultane springt mit Vollgas in die Fußstapfen ihrer algerisch-stämmigen Kollegin Sofia Boutella, gibt den Wildfang im Supersexy-Dauermodus und kommt doch nicht so recht von der Stelle, weil die im Kern einfache Geschichte sich im Schnittgewitter ihrer chronologischen Logik entkleidet und in immer wilderen Bildfolgen neu zusammengesetzt wiederfindet.

Französische Tradition

In Frankreich hat das Tradition. Vergleichbare Vorgängerfilme hießen „Subway“, „Die Liebenden vom Pont Neuf“, „Betty Blue“, „Wilde Nächte“ oder „Baise Moi“. Von Ferne grüßen Größen mit den Zigaretten von David Lynch und den Hochhackigen bei Gregg Araki und Wong Kar-wai. Und Alain Robbe-Grillet lächelt, weil er weiß, dass manches immer gut aussieht. Von Uwe Mies.

Hier geht's zum Trailer.

Donaufilm Junk Love F 2018 97 Minuten R Pierre de Suzzoni D Laura Hamisultane, Barthelemy Grossmann, Anna Stern Auf wildromantischen Lebenstaumel getrimmte Love Story in aggressiv schicker Werbeoptik. Die Franzosen können sowas gut.

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