Opfer des NationalsozialismusStolperstein-Schicksale – Eines Tages war Tante Klärchen verschwunden

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Klara und Fritz Stoffels

Klara (Klärchen) und Fritz Stoffels wurden von den Nazis hingerichtet. An ihr Schicksal erinnern Stolpersteine an der Belvederestraße in Müngersdorf.

Wer sind die Menschen, an die die goldenen Stolpersteine erinnern? Unsere Autorin hat recherchiert und erzählt fünf Schicksale aus Köln.

Man sieht sie überall in der Stadt: quadratische Metallplatten, knapp zehn Zentimeter groß, eingelassen in Bürgersteige und Freiflächen. Darauf ein Name, ein Geburts- und ein Todesdatum. Mehr als 2500 dieser goldglänzenden Objekte hat der Künstler Gunter Demnig seit 1996 allein in Köln verlegt. Im Mai 2023 waren es europaweit 100000.

Das Projekt Stolpersteine ist damit das wohl größte dezentrale Mahnmal der Welt. Es erinnert an die Opfer des Nationalsozialismus, die wegen ihres Glaubens, ihrer sexuellen Ausrichtung, wegen ihrer politischen Ansichten, wegen körperlicher Erkrankungen, geistiger Einschränkungen, wegen Bettelei oder „gemeinschaftswidrigen Verhaltens“ verfolgt, gedemütigt und ermordet wurden.

Doch wer waren diese Menschen, von denen wir kaum mehr als die Eckdaten ihres Lebens kennen? Das fragte ich mich oft, wenn ich vorsichtig über einen dieser Steine hinwegstieg. Wer waren ihre Eltern? Wo sind sie zur Schule gegangen? Wie haben sie die Zeit der Verfolgung erlebt? All diesen Fragen bin ich nachgegangen in dem gerade erschienenen Buch „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“, das am 17. Juni im NS-Dokumentationszentrum vorgestellt wird.

Geschichten hinter den Steinen: zwölf Kölnerinnen und Kölner gerieten in die Fänge der Nationalsozialisten

Es enthält zwölf Lebensgeschichten von Kölnerinnen und Kölnern, die zwischen 1933 und 1945 in die Fänge der Nationalsozialisten gerieten. Da ist Hilde Helmreich, die als junge Frau das KZ Auschwitz überlebte und 1946 in die USA emigrierte. Da ist Nina Sawina aus der Ukraine, die in Deutschland Zwangsarbeit leisten musste. Da ist Jakob Stock, ein Pferdehändler aus der Eifel, der mitansehen musste, wie seine Familie zerbrach, und der im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde. Die Informationen stammen aus Archiven, Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen von Angehörigen.

Nachfolgend werden fünf der insgesamt 15 Frauen, Männer und Kinder vorgestellt, deren Lebensgeschichten in „Verfolgt und nicht vergessen“ ausführlich erzählt werden. Dabei geht es darum, die Erinnerung an jene Menschen zu bewahren, die ausgegrenzt und ausgelöscht werden sollten. Eine ewig aktuelle Aufgabe.

Stolperstein in der Gleueler Straße 163: Hier lebte die Journalistin Hilde Spier

Familie Spier auf der Uferpromenade in Cap d’Ail, August 1942.

Familie Spier auf der Uferpromenade in Cap d’Ail, August 1942.

An was sie sich erinnert, wenn sie an ihre Mutter denkt? „An alles“, schrieb Marianne Spier-Donati in einer Mail an die Autorin. „An jedes Ereignis und jedes Gefühl für sie.“ An die Stimme der Mutter, wenn sie aus den Werken französischer Dichter zitierte. An ihre Liebe zu klassischer Musik. Und natürlich an dieses bunte Sommerkleid, das Hilde Spier, geborene Wolff, am Morgen des 29. August 1942 trug.

An dem Tag, als die Kölner Journalistin und zweifache Mutter in einer Kaserne in Nizza auf eine Trage geschnallt und auf eine Reise geschickt wurde, die wenig später in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ihr Ende fand. Auch Marianne Spier-Donatis Vater Carl wurde an diesem Tag festgenommen und nach Auschwitz deportiert. Er starb Anfang des Jahres 1945 auf einem Todesmarsch.

Es ist meine letzte Bitte. Säume nicht, leb wohl
Hilde Spier

Hilde und Carl Spier stammten aus gutbürgerlichen jüdischen Familien. Hilde wurde am 18. Juni 1901, Carl am 15. Dezember 1900 in Köln geboren. Hilde Spier war promovierte Sprachwissenschaftlerin und arbeitete bis zur Geburt ihres ersten Kindes 1930 als Redakteurin bei der Kölnischen Zeitung. Carl Spier hatte Wirtschaftswissenschaft studiert und bekleidete einen Direktorenposten bei einer Schuhfabrik.

1935 verließ die Familie Deutschland und ließ sich in Brüssel nieder. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 wurde Carl Spier festgenommen und in ein französisches Lager abgeschoben. Die letzten Monate vor ihrer Deportation verbrachten Hilde und Carl Spier gemeinsam mit Tochter Marianne und dem zwei Jahre jüngeren Sohn Rolf in der südfranzösischen Stadt Cap D’Ail.

Hilde Spiers größte Sorge galt ihren Kindern, die nach ihrem Abtransport aus Nizza allein in Südfrankreich zurückgeblieben waren. Bei einem Zwischenstopp in Marseille warf sie eine Karte, adressiert an eine entfernte Kusine, aus dem Zugfenster und flehte sie an, sich um Marianne und Rolf zu kümmern: „Es ist meine letzte Bitte. Säume nicht, leb wohl.“

Stolperstein in der Belvederestraße 147: Hier lebten die Zeugen Jehovas Klara und Fritz Stoffels

Klara und Fritz Stoffels.

Klara und Fritz Stoffels.

Eines Tages war Tante Klärchen verschwunden. Tante Klärchen aus der Belvederestraße 147. Die mit den merkwürdigen Heftchen, die überall in ihrer Wohnung herumlagen. „Diese Heftchen waren mir irgendwie nicht geheuer“, erinnert sich Helmut Bieger. Acht Jahre alt war der heute 91-Jährige, als die Verwandte aus seinem Leben verschwand, zwölf Jahre, als er erfuhr, dass sie und ihr Ehemann Fritz zum Tode verurteilt worden waren. Fritz und Klara Stoffels, geborene Wiechert, waren Zeugen Jehovas. Bis zu ihrem letzten Atemzug waren sie fest verankert in einem Glauben, der sie und mehr als 2000 Gleichgesinnte während der NS-Zeit das Leben kostete.

Klara Stoffels wurde am 7. Dezember 1904 in Wiesdorf-Küppersteg in eine kinderreiche Arbeiterfamilie hineingeboren und schloss sich 1922 den Zeugen Jehovas an. Fritz Stoffels kam am 7. August 1898 in Hamborn bei Duisburg zur Welt. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg und gehörte seit 1919 den Zeugen Jehovas an. Beide arbeiteten in Köln als Missionare für die von den Nazis verbotene Glaubensgemeinschaft. Anfang der 1940er Jahre zogen sie nach Oberhausen und setzten dort ihre Untergrundarbeit fort.

Im April 1944 flog die Oberhausener Zelle auf. Klara und Fritz Stoffels wurden festgenommen und am 2. Juni 1944 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen „Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt. Klara Stoffels wurde am 11. August 1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee, Fritz Stoffels am 14. August 1944 im Zuchthaus Brandenburg-Görden hingerichtet. Nur wenige Stunden vor ihrem Tod schrieb Klara Stoffels einen Abschiedsbrief an die Eltern und Geschwister. Glücklich sei sie, versichert sie darin, und sie wisse, wofür sie ihr Leben gebe. „Denn ein Samenkorn bringt keine Frucht, es sei denn, dass es vorher sterbe.“

Stolperstein in der Klosterstraße 43: Hier lebte der Pferdehändler Jakob Stock

Jakob und Rosalia Stock, geb. Schwarz.

Jakob und Rosalia Stock, geb. Schwarz.

Das ehemalige Wohnhaus der Familie Stock in Lommersum bei Euskirchen steht noch an alter Stelle – ein verwitterter Bau aus rotbraunem Backstein. Zwei Etagen hoch, die Fenster schmal. Bald 200 Jahre alt. In diesem Haus also, in der früheren Rathausgasse 16, wohnte einst Jakob Stock, Vater von fünf Kindern, Pferdehändler von Beruf. Geboren in Lommersum am 20. Juni 1869, umgezogen nach Köln im Juni 1917. Ermordet im Vernichtungslager Treblinka im September 1942.

Jakob Stock stammte aus einer kinderreichen jüdischen Familie. Sein Vater Seligman war Viehhändler, er selber machte sich in den 1890er Jahren als Pferdehändler selbstständig. 1917 verlegte er seinen Betrieb nach Köln und ließ sich mit Ehefrau Rosalia und den fünf Kindern in der Dürener Straße 137 nieder. Die Geschäfte gingen gut, Sohn Fritz wurde – als erster in seiner Familie überhaupt – auf ein Gymnasium geschickt.

Dann der Bruch: Am 30. Januar 1933 kamen die Nationalsozialisten an die Macht, und Jakob Stock verlor innerhalb weniger Jahre sein Haus, sein Geschäft, Teile seiner Familie und schließlich sein Leben. Im Jahr 1937 mussten Rosalia und er das Haus in der Dürener Straße räumen und kamen mit ihren Söhnen Salli und Felix in der Klosterstraße 43 unter. Sohn Fritz und die beiden Töchter waren zuvor ausgewandert. 1940 war die jüdische Familie auch in der Klosterstraße nicht mehr erwünscht.

Jakob und Rosalia Stock zogen zunächst in ein Ghettohaus in der Cäcilienstraße 18–22. Ihre Söhne und deren Partnerinnen kamen in anderen Ghettohäusern unter. Am 15. Juni 1942 wurde das betagte Ehepaar in das Ghetto Theresienstadt deportiert und am 19. September weiterverschickt in das Vernichtungslager Treblinka. Dort wurden Jakob und Rosalia Stock vermutlich kurz nach ihrer Ankunft getötet. Salli und Felix Stock waren einige Wochen zuvor in unterschiedlichen Vernichtungslagern ermordet worden.

Stolperstein in der Salzgasse 9: Hier lebte der Obdachlose Heinrich Malmedy

Stolperstein Heinrich Malmedy, Salzgasse.

Stolperstein Heinrich Malmedy, Salzgasse.

Es ist der 18. Mai 1944. Christi Himmelfahrt. Der Tag, an dem Jesus in den Himmel aufstieg. Für Heinrich Malmedy markierte der christliche Feiertag seine letzten Stunden in Freiheit. Gegen Mittag wurde der Obdachlose im Wartesaal des Kölner Hauptbahnhofs von einer Polizeistreife aufgegriffen und festgenommen. Zwölf Tage später ordnete die Kripo Köln die Überstellung des Häftlings in ein Konzentrationslager an – und besiegelte damit sein Todesurteil.

Am 31. Januar 1945 starb Heinrich Malmedy im Konzentrationslager Dachau. Offizielle Todesursache: schwere Darmentzündung. Hinter dem 57-Jährigen lag an diesem 31. Januar ein Leben an den Grenzen der Legalität, geprägt von Armut, Gaunereien und nicht zuletzt bestimmt durch eine sexuelle Orientierung, die ihn in den Augen der Nationalsozialisten zum „Volksfeind“ und potenziellen Kriminellen machte. Heinrich Malmedy war homosexuell.

Geboren wurde er am 9. Februar 1887 im rechtsrheinischen Mülheim. Sein Vater war Fabrikarbeiter. Er selber hielt sich mit Gelegenheitsjobs, Bettelei und einigen Betrügereien über Wasser. Seine sexuellen Bedürfnisse befriedigte er in den einschlägigen Kölner Parks. Im Sommer 1938 geriet Heinrich Malmedy das erste Mal wegen seiner Homosexualität ins Visier der Kölner Polizei und wurde wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt.

Er verlor sein Zimmer in der Salzgasse 9. Bei seiner Festnahme im Kölner Hauptbahnhof sechs Jahre später war er obdach- und arbeitslos. Beides wurde ihm zum Verhängnis. Heinrich Malmedy wurde als sogenannter Asozialer zu einer zeitlich unbegrenzten Lagerhaft verurteilt, die er nicht überlebte.

Stolperstein in der lmmermannstraße 53: Hier lebte die Zwangsarbeiterin Nina Sawina

Erkennungsdienstliche Fotos von Nina Sawina, September 1944.

Erkennungsdienstliche Fotos von Nina Sawina, September 1944.

Das Todeskommando war pünktlich. Acht Uhr abends vor dem Gestapogefängnis Brauweiler, hatte Kriminalkommissar Ferdinand Kütter seinen Männern befohlen. Ein Friedhofswärter zum Abtransport der Leiche war bestellt. Wenige Minuten nach dem Eintreffen der Männer hallten drei Schüsse durch die Dunkelheit. Zwei Kugeln trafen die Gefangene ins Herz, der letzte Schuss – der „Gnadenschuss“, wie einer der beiden Täter später aussagte – galt ihrem Kopf.

Ein schlichter Stein auf dem Friedhof von Brauweiler markiert ihr Grab. „Russische Bürgerin, Name unbekannt“, steht in kyrillischen Buchstaben darauf. Erst seit einigen Jahren verweist eine kleine Metalltafel auf den Namen und die Lebensdaten der Ermordeten: Nina Sawina, geboren am 21. September 1923, gestorben am 14. Februar 1945.

Nina Sawina stammte aus der Ukraine und wurde im März 1942 zusammen mit ihrer Schwester Lisa als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Zunächst arbeitete sie einige Wochen in einer Fabrik für Landmaschinen im Oberbergischen. Im Sommer 1942 wurde ihr eine Stelle als Zimmermädchen in einem Kölner Hotel zugewiesen. Zum Verhängnis wurde der jungen Frau eine Affäre mit einem Gast des Hotels. Der Direktor zeigte das Paar an wegen „verbotenen Umgangs“ und des Verdachts, „geschlechtlich miteinander verkehrt zu haben“.

Um ihrer Festnahme zu entgehen, versteckte sich Nina Sawina bei einer Bekannten in der Immermannstraße 53, wurde jedoch im Zuge einer Razzia entdeckt und zunächst in der Kölner Gestapozentrale im EL-DE-Haus festgehalten. In einer der Zellen findet sich noch ein Schriftzug mit ihrem Namen. Am 27. September 1944 wurde sie in das Gestapo-Hilfsgefängnis in Brauweiler überführt und am 14. Februar 1945 erschossen. Ferdinand Kütter, erzählte einer der Tatbeteiligten, sei danach in aufgeräumter Stimmung gewesen.


Petra Pluwatsch: „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“, Metropol, 250 Seiten, 22 Euro Wir verlosen 10 Exemplare des Buches. Schreiben Sie uns eine E-Mail mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse und dem Betreff „Stolpersteine“ an die Adresse: ksta-magazin@kstamedien.de. Einsendeschluss: 4. Juni 2023, 24 Uhr


Buchvorstellung und Fest im NS-DOK

Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln hat sich vergrößert – und feiert am 17. Juni 2023 von 11 bis 24 Uhr mit einem großen Fest die Erweiterung seines Angebots um die Lehrräume „Remote Island“, um das Junge Museum, um neue Erzählcafés und Workshop-Räume. Außerdem geben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an diesem Tag Einblicke in aktuelle Projekte des NS-DOK sowie in die Arbeit einiger ihrer Kooperationspartnerinnen und -partner. Auf dem Programm stehen unter anderem Führungen durch die neuen Räume (anmeldepflichtig), Vorträge und Workshops und ein umfangreiches Abendprogramm mit Eko Fresh & DJ Philip Jondo. Das Buch „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“ wird um 16.30 Uhr im Erzählcafé II vorgestellt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Adresse: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln, Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln Weitere Programminformationen: www.nsdok.de

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