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„50 Meter Köln“Das Fleisch ist schwach

Lesezeit 5 Minuten

Der Sex-Shop von Maria Koch auf der Venloer Straße.

Köln – Maria Koch, die Inhaberin des Sex-Shops in der Venloer Straße 370, und ihre Nachbarin Ricarda Wiesen, die in der 368 ein Schönheitsstudio betreibt, tragen halblanges Haar und Brille. Beide sind sehr freundlich. Beide plaudern gern. Koch möchte ihren Sex-Shop lieber Erotikfachgeschäft genannt wissen, Wiesen nennt ihren Schönheitssalon Kosmetikinstitut.

Beide leben davon, dass der Geist sagt, gekaufter Sex und Schönheit seien unwichtig, das Fleisch aber seit jeher schwach geblieben ist.

Schluss nach 38 Jahren

Maria Kochs Sex-Shop, der am 13. Dezember nach 38 Jahren schließen wird, zählt zu den bekanntesten Läden Ehrenfelds. Den Shop mit der Werbetafel samt Zeichnung einer nackten Frau kennt von außen jeder.

Viele der Männer, die zu Frau Koch kommen, gucken sich vorher das Schaufenster von Frau Wiesen an. Wie der Typ mit dem 70er-Jahre-Schnäuzer und der Herz-Tätowierung auf dem Hals, dem der Sinn eher nicht nach einer Gesichtsbehandlung für 56 Euro oder einer hautstraffenden Creme für 150 Euro stehen dürfte. Als die Straße leer ist, huscht er in eine von Kochs Videokabinen. „So machen das viele, das kann man jeden Tag beobachten“, sagt Wiesen. „Es gibt wahrscheinlich nicht so viele Kunden, die wir uns teilen“, sagt Koch lachend. „Dass die Leute bei mir ins Schaufenster gucken und zu Frau Wiesen reingehen, wenn keiner guckt, passiert eher nicht.“

Vor ein paar Jahren haben Koch und Wiesen sich gestritten. Im Hinterhof des Schönheitsstudios war mehrmals am Tag lautes Stöhnen zu hören. Die Laute hallten aus den Video-Kabinen des Sex-Shops. Der Zwist endete mit einem Schiedsverfahren. Koch ließ eine Dämmschicht verlegen, seitdem ist Ruhe im Gebälk.

„Ich würde sagen, wir verstehen uns gut“, sagt Koch. „Wir verstehen uns“, sagt Wiesen. Langjährige Nachbarschaft kann verbinden oder trennen oder beides. Nur ein Antiquitätenladen, ein Friseur, Wiesens Institut und Kochs Fachgeschäft sind auf diesem Fleckchen Venloer Straße in fast 40 Jahren geblieben. Sie haben die Kiosks, Döner-Buden und Ein-Euro-Shops kommen und gehen sehen, die Schüsse gehört, wenn ein Streit vor einer der Eckkneipen eskalierte. „Das war lange eine wilde Gegend hier“, sagt Koch.

Dessous, Peitschen und Pornofilme

Die Nachbarinnen kennen sich, seit die heute 64-Jährige Koch und ihr Mann im Sommer 1976 ihr Geschäft eröffneten, das innen so aussieht wie ein angestaubter Tante-Emma-Laden. Statt Zucker, Eier und Zigaretten gibt es Dessous, Peitschen und Pornofilme. An der Kasse sind Bonbons zu finden. Daneben steht ein Glas mit Kondomen. Hinter dem Tresen leuchten riesige Windeln in Rosa und Hellblau – Koch hat sich auf den so genannten Windelfetisch von Erwachsenen spezialisiert, eine der befremdlichsten Spielarten der Sexualität. Wie zahlreiche Studien belegen, ist der absonderliche Fetisch indes harmlos: Die Erwachsenen interessieren sich nicht für Babys oder kleine Kinder, sie wollen selbst kleine Kinder sein.

Maria Koch trägt Kassengestell und hautfarbene Strickjacke. Über die Bedürfnisse ihrer Kunden spricht sie pragmatisch wie eine Versicherungsangestellte. „Am Anfang waren wir absolute Außenseiter, die Frau vom Foto-Laden nebenan hat uns nicht mal angeguckt.“ Mit der Befreiung der Sexualmoral durch die 68er habe sich auch der Deutschen Einstellung gegenüber Erotik-Geschäften etwas gelockert. „Obwohl es bis heute nicht selbstverständlich ist. Wenn ich auf der Straße Kunden treffe, kann ich sie nicht einfach grüßen.“ Aus der Nachbarschaft wollen viele nichts mit Koch zu tun haben. „Manche weigern sich, mich zu grüßen.“ Vor drei Jahren hat Koch gar eine Bombendrohung erhalten: Handschriftlich hatte jemand geschrieben, es sei eine Schande, dass es dieses „widerliche Geschäft“ noch gebe, während ehrbare Existenzen in Ehrenfeld zugrunde gingen. Er werde das Haus deswegen in die Luft jagen. Die Polizei rückte mit einer Hundestaffel an. Am nächsten Tag schloss Maria Koch ihren Laden wieder auf.

Ricarda Wiesen ist noch länger auf der Venloer zu Hause: Die 47-Jährige ist in der 368, dem Haus ihrer Großeltern, aufgewachsen. Ihre Oma hatte eine Parfümerie in Klettenberg, die die Mutter übernahm. Später zog die Familie mit Baby Ricarda in die Privatwohnung in Ehrenfeld, in einem Privatzimmer behandelte die Mutter Füße, Hände und Gesichter.

Das Veedel im Wandel

Seit 26 Jahren führt Ricarda Wiesen die Geschäfte – vor einem Jahr ist sie aus dem Hinterhof des Hauses ins Ladenlokal an der Straße gezogen, in dem vorher ein Kiosk ansässig war. Die Instrumente vor einer Liege sehen aus wie beim Zahnarzt, klinisch rein wirkt das ganze Studio. Wiesen hat sich auf „Anti Aging“ spezialisiert – Behandlungen, die helfen sollen, die Alterung der Haut aufzuhalten. Es geht in Wiesens wie in Kochs Metier um menschliche Bedürfnisse, die Konjunktur haben: Pornos wie Schönheitskuren sind in der Masse angekommen. Bloß hat das Internet den Erotikläden längst das Wasser abgegraben, und Kosmetikstudios plagen sich mit übergroßer Konkurrenz: Nagelstudios beispielsweise, die gerade auf der Venloer wie Pilze aus dem Boden schießen.

Das Klientel hat sich im Laufe der Jahrzehnte mit dem Stadtteil gewandelt. Ricarda Wiesens Kunden sind jünger geworden. „Früher war Fußpflege etwas für die Ü-50-Frauen, heute kommen auch junge Menschen und Männer.“ Als Ehrenfeld noch Arbeiterviertel war, kamen die Kunden aus Lindenthal, Junkersdorf oder Braunsfeld. „Heute, da das Viertel als hip gilt, wohnen fast alle Gesellschaftsschichten hier.“

Maria Kochs Kunden sind mit dem Laden älter geworden. Es sind Prostituierte, die sich gern von einer seriösen älteren Dame beraten lassen, und Männer, die noch nicht aufs Internet zurückgreifen. Kochs ältester Kunde ist 94. Er kommt immer mit dem Taxi. Einer 90-Jährigen muss sie vorlesen, was auf den Hüllen der Pornovideos steht. Nicht wenige Kunden sind Einwanderer. „Früher haben in Ehrenfeld ja sehr viele Ausländer gelebt, vor allem Italiener und Türken. Mit den steigenden Wohnungspreisen sind mehr Deutsche gekommen.“ Wenn Koch ihren Laden am 13. Dezember für immer schließt, wird sie sich mit einem Schild am Eingang auch auf Italienisch und Türkisch für die Treue ihrer Kunden bedanken. Von ihrer Nachbarin Ricarda Wiesen wird sie sich herzlich verabschieden.