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AutismusEin Glücksfall für die Deutsche Bahn

Lesezeit 3 Minuten

Die Bahn ist seine Leidenschaft – Dirk Blumenthal vor der Fahrplantafel auf dem Bahnhof in Köln-Mülheim.

Köln – Einen Menschen wie Dirk Blumenthal wünschte man sich als Zugbegleiter. Freitags, in einem überfüllten und verspäteten ICE auf dem Weg ins Wochenende, wenn die bange Frage mitfährt, ob es in Köln mit dem Anschlusszug noch klappt. Fragen wie diese kann Blumenthal sofort beantworten. Ohne Smartphone, Tablet-PC oder Fahrplanheft. Und das mit einer Leidenschaft, dass der Ärger über das Bahnchaos sofort verraucht ist. Der 20-Jährige kennt den gesamten Fahrplan der Deutschen Bahn auswendig. Jede Station, jede Verbindung, selbst bei den vielen Großbaustellen, die das empfindliche System immer wieder durcheinanderbringen, ist er auf dem Stand. Egal, wohin die Reise geht: die schnellste Verbindung, der kürzeste Aufenthalt sind in seinem Gedächtnis gespeichert.

Außergewöhnliche Leistungen

Dirk Blumenthal ist Autist und verfügt über eine sogenannte Inselbegabung, die ihn zu außergewöhnlichen Leistungen auf einem ganz speziellen Gebiet befähigt. „Wenn ich irgendwo an einem Bahnhof unterwegs bin, schaue ich mir den Fahrplan an und präge mir ihn ein“, sagt er beiläufig, als sei das die normalste Sache der Welt. Auf seinem Weg zum Fachabitur, das er an einem Berufskolleg der Josefs-Gesellschaft in Rhöndorf ablegen wird, hat er gerade zwei Wochen lang als Schülerpraktikant im Reise-Zentrum des Bahnhofs Mülheim absolviert. Die Bahn habe ihn von klein auf fasziniert. Deshalb habe er sich auch persönlich im Kölner Hauptbahnhof um das Praktikum bemüht.

Die besondere Leidenschaft für ein Thema ist eine wichtige Voraussetzung für Autisten mit der Inselbegabung, um derartige Leistungen zu erzielen. „Bei Flugplänen oder Telefonnummern könnte ich das nicht.“ Sein Faible für die Fahrpläne der Bahn hat auch nichts mit einer besonderen mathematischen Begabung zu tun. „Da komme ich über die Note befriedigend nicht hinaus.“ Auf dem Berufskolleg bereitet sich Blumenthal gemeinsam mit jungen Menschen ohne Beeinträchtigungen auf das Fachabitur vor, das er im kommenden Jahr ablegen wird. „Unter anderen Umständen wäre ich wohl auf einer Hauptschule gelandet. Aber in diesem Umfeld mit einer kleinen Klasse können wir gut gefördert werden. Wir sind nur 14 Leute.“

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Der Job im Reise-Zentrum war genau sein Ding. Bei seinen Kollegen ist Blumenthals besondere Begabung auch positiv aufgefallen. „Es ist schon faszinierend, wenn jemand so viel Ahnung hat. Nicht nur von den Fahrplänen, sondern auch von den Zügen.“

„Die Bahn ist meine Leidenschaft.“

Dirk Blumenthal hat das System Bahn vollständig verinnerlicht. „Die Bahn ist meine Leidenschaft und natürlich auch mein Berufsziel. Ich würde gerne nach dem Abi eine Ausbildung machen, zum Beispiel im Service Point im Hauptbahnhof. Das wäre dann im kaufmännischen Bereich.“ Sein großer Traum sei aber, eines Tages als Lokführer oder Zugbegleiter zu arbeiten, sagt er, während durch den Mülheimer Bahnhof gerade ein ICE Richtung Berlin gleitet. „Ziemlich pünktlich. Die kleine Verspätung holt der bis Hamm wieder raus.“ Natürlich muss jetzt die Frage kommen, die Blumenthal immer wieder gestellt wird: Warum hat er sich noch nicht bei „Wetten dass?“ beworben? „Ich will erst die Schule abschließen und danach eine Ausbildung machen. Das ist mir erstmal wichtiger. Außerdem will ich nicht angeberisch rüberkommen.“

Zumal es vor einem Auftritt in der Fernsehshow durchaus noch ein Erweiterungsfeld gäbe, dass er gerne beackern würde. Zu den mehr als 25 000 Personenzügen, die täglich durch Deutschland fahren, kommen noch rund 5000 Güterzüge. „Die fahren auch alle nach Plan. aber den kenne ich leider nicht, weil die Bahn ihn nicht veröffentlicht.“