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Interview mit Eckart von Hirschhausen„Mein Leben geht noch bis zum 12. Januar 2052“

Lesezeit 11 Minuten
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Eckart von Hirschhausen auf dem Kölner Melatenfriedhof

  • Eckart von Hirschhausen ist Arzt, Kabarettist und TV-Moderator. Beim Interview auf dem Kölner Melaten-Friedhof spricht er über die „Restlaufzeit” seines Lebens und erklärt, warum jeder Mensch eigentlich zwei Leben hat.
  • Er erzählt auch, warum der Tod kein Feind mehr für ihn als Arzt ist, wie er die hitzige Diskussion um Greta Thunberg interpretiert und wie Klimawandel und Gesundheit zusammenhängen.

Köln – Herr von Hirschhausen, Sie haben für unser Gespräch einen Rundgang auf dem Friedhof Melaten vorgeschlagen. Ein Arzt entdeckt Tod und Endlichkeit – das klingt wie: Ein Bauer entdeckt die Jahreszeiten.

Das Endlichkeitsthema kam bei mir rund um meinen 50. Geburtstag auf. Jeder Mensch hat ja zwei Leben. Und das zweite beginnt, wenn man kapiert, man hat nur eins. Es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen den Jahren von 20 bis 45 und der zweiten Lebenshälfte. Prioritäten verschieben sich, der Wert von Zeit und ich entdecke eine ungeahnte Freude daran, andere zu inspirieren, etwas anzustoßen und weiterzugeben. Das hatte ich zum Beispiel vor zehn Jahren noch nicht in der Art. 

Was war stattdessen für Sie wichtig?

Alles zum Thema Melaten

Ach, da war ich noch voll auf dem „Schneller, höher, weiter, bekannter“-Trip. Wenn ich dagegen heute an der Uni mit Medizinstudenten spreche und im Hörsaal 400 Leute vor mir habe, dann sage ich mir: „Jeder von diesen jungen Leuten wird in seinem Arztleben – sagen wir – 50.000 Gespräche mit Patienten führen. Vielleicht kann ich einige von ihnen ja zum Nachdenken anstiften: Wie höre ich Patienten zu? Wie spreche ich mit ihnen auf Augenhöhe? Wie setze ich dabei mein eigenes Quantum Humor ein? Wie finde ich heraus, was Patienten eigentlich für sich selber entscheiden wollen, und nicht nur, was das Gesundheitssystem für richtig hält?“

Und wenn jeder der Studierenden auch nur eine kleine Idee mitnimmt, sind das viele Tausend Impulse für mehr Humanität in der Humanmedizin. Ich möchte, bevor ich sterbe, sagen können: Ich habe aus meinen Fähigkeiten und mit den Themen, die mich beschäftigen, etwas gemacht, was hoffentlich die Tatsache aufwiegt, dass ich nicht selber als Arzt im Krankenhaus am Bett von Patienten stehe.

Das erledigt aber nicht die Angst vor dem Altern, vor dem Sterben und vor dem Tod. 

In meiner Generation wurden wir als angehende Ärzte noch dazu erzogen, den Tod als Feind zu definieren: Jeder Patient, der stirbt, beleidigt – übertrieben gesagt – die behandelnden Ärzte und ihre Kunst. Die ganze Metaphorik rund um Krebs beruht bis heute auf dem Motiv eines Kampfes, den Arzt und Patient gewinnen oder verlieren. Ich finde das falsch. Ein Mensch, der stirbt, ist kein Verlierer.

Und wir werden diesen „Kampf“ auch nicht wie seit 30 Jahren behauptet wird, in fünf Jahren drehen, denn Krebs ist zu weiten Teilen eine Alterserscheinung, und wenn wir älter werden heißt das salopp: wer Krebs oder Demenz bekommt ist nicht vorher an den Dingen gestorben, die unsere Vorfahren erlitten. Ob der Mensch ein Gewinner ist, bemisst sich auch nicht nach Jahren und ist für Außenstehende ohnehin kaum zu beurteilen.

Grundsätzlich sollten wir uns in Deutschland klarmachen, dass keine Generation vor uns so lange und so gut gelebt hat wie unsere. Die Webseite population.io berechnet anhand des eigenen Geburtsdatums und anderer Parameter die „Restlaufzeit“ unseres Lebens. Wenn ich auf Tournee bin, führe ich das dem Publikum immer live mit meinen eigenen Daten vor. Für mich ist das jeden Abend eine kleine Demutsübung. Aktuell habe ich noch bis zum 12. Januar 2052, da muss ich mir dann für dieses Jahr keine großen Vorsätze mehr machen.

Ein modernes Memento mori?

Ja, da wird mir klar gesagt: 79 Prozent der Bevölkerung der Welt und 57 Prozent der Menschen in Deutschland sind jünger als ich. Und das, obwohl ich mich doch noch so jung fühle! Was mich dann aber jeden Abend freut: Ich bekomme fünf Jahre geschenkt – allein dadurch, dass ich in diesem Land lebe und nicht woanders auf der Welt. Gleichzeitig meckern wir dauernd, wir hätten keine Zeit. Keine Zeit? Wir haben so viel Zeit wie noch nie. Worüber beschweren wir uns eigentlich? Selten ist mir das so klar geworden wie in den Tagen, die ich für eine ARD-Reportage unlängst einmal in einem Hospiz verbracht habe. 

Was haben Sie dort gelernt?

Viel! Ausgerechnet die Menschen, die am nächsten mit dem Tod zu tun haben, haben am wenigstens Angst vor ihm. Krankenschwestern, die vorher auf Intensivstationen gearbeitet hatten, sagen mir: Das hier hat sehr viel mehr mit dem Leben zu tun als alles, was wir bisher zur Lebenserhaltung getan haben.

Ich beobachtete an mir auch ein Umdenken vom Tun zum Lassen. Hier ticken die Uhren anders. Das Hospiz ist ein Ort, der komplett herausgenommen ist aus der ganzen Betriebsamkeit der Hochleistungsmedizin und unserer Welt.

Mit meiner Arzt-Denke wollte ich vor dem Betreten jedes Zimmers wissen: Welches Krankheitsbild? Welche Komplikationen? Welche Prognose? Eine der Schwestern sagte zu mir: „Entspann dich, das ist hier alles nicht mehr so wichtig. Begegne dem Menschen in diesem Zimmer doch einfach so, wie er ist.“ Und das stimmt. Es geht im Hospiz um Begegnung, Würde und um Echtheit.

Menschen, die darum wissen, wie kostbar die ihnen verbleibende Zeit ist, haben auf anderes keine Lust mehr. Insofern ist der Moment, in dem es ganz existenziell auf den Tod zugeht, für viele auch befreiend: Sie müssen kein Bild von sich selbst mehr aufrechterhalten. Sie müssen es niemandem mehr Recht machen. Ich habe im Hospiz Menschen getroffen, die sehr gelassen waren und sogar fröhlich.

Fröhlich?

Tatsächlich weiß man sehr wenig über den Faktor Humor in der Sterbephase. Im Rahmen einer Studie schicken wir von meiner Stiftung „Humor hilft heilen“ gerade zwei Improvisationskünstler zu Menschen auf der Palliativstation der Universitätsklinik in Bonn.

Sie sollen sagen, worüber sie früher gern gelacht haben – Heinz Erhardt, Loriot, Mario Barth, je nachdem. Oder die Schauspieler fragen nach leichten, fröhlichen Erinnerungen und versuchen, diese nachzustellen: Für den Venedig-Urlaub zum Beispiel wird das Bett zur Gondel, und der „Gondoliere“ singt zur Gitarre ein italienisches Chanson. Durch Befragungen vorher und nachher finden Psychologen heraus, wie sich Stimmung, empfundene Lebensqualität und auch konkrete Dinge wie Schmerzempfinden ändern. 

Das zu erhärten, ist wissenschaftlich kein ganz einfaches Unterfangen, aber spannend. 

Aber am Ende steht dann doch unausweichlich das Grab. 

Genau deshalb sind wir jetzt auf dem Friedhof. Ich habe unlängst - ohne Witz – ein Investorenmodell für Krematorien angeboten bekommen. Die Offerte argumentierte, das sei schließlich der Trend in Westeuropa: Urnengräber, anonyme Bestattung, Verstreuen der Asche im Wald oder auf See. Die vorhandenen Krematorien kämen vor lauter Anfragen schon jetzt gar nicht mehr hinterher. Also: ein lukratives Geschäftsmodell. 

Todsicher sozusagen. Und, haben Sie investiert?

Nein, ich fand das sehr absurd. Klar gibt es eine Bestattungsindustrie, die unter dem Deckmantel der Pietät ihre Gewinne macht. Aber was ist denn das letzte Signal, wenn ich mich Einäschern lasse? Noch mal ordentlich Kohlendioxid produzieren, als hätte ich das nicht schon genug in meinem Leben. Da werde ich doch lieber Futter für Bakterien und Würmer – also nicht ich, sondern das, was von mir überbleibt.

„Von der Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du zurück“, heißt es im christlichen Beerdigungsritus.

„Asche zu Asche, Staub zu Staub“, ja… Wahrscheinlich meinen die meisten deswegen, bevor sie zu Staub verfallen, müssten sie in ihrem Leben möglichst viel Staub aufgewirbelt haben. Die Friedhöfe sind voll von Leuten, die sich für unersetzlich hielten. Und gerade hier auf Melaten sieht man das ganz gut an all diesen prunkvollen Grabmälern, die noch im Tod zeigen sollen, wie wichtig jemand im Leben war.

Ist es nicht verständlich, dem Tod ein Stück bleibender Individualität abringen zu wollen?

Ich finde ja, wir Deutschen haben es mit unserer Kultur des Trauerns nicht so gut getroffen: Jeder für sich, alles sehr nach innen gerichtet – und den Tod ja nicht so nah heranlassen. In Mexiko wird auf dem Grab getanzt, in mediterranen Kulturen laut geklagt, im alten China wurden angeblich Stripperinnen zu Bestattungen organisiert, weil das mehr Besucher und mehr Respekt bedeutete. Es gibt, finde ich, einen sehr klugen Satz im katholischen Beerdigungsritus: „Wir beten besonders für den aus unserer Mitte, der als erster dem Verstorbenen vor das Angesicht Gottes folgen wird.“ Wer bei der Hochzeit den Brautstrauß fängt, heiratet als nächstes. Bei der Beerdigung aber - wirft niemand einen Kranz.

Das wäre ja auch allzu makaber, oder?

Ich will überhaupt nichts beschönigen. Der Tod kann schrecklich sein. Im Hospiz habe ich eine Frau getroffen, Hirntumor, Anfang 40. Sie hinterlässt einen pubertierenden Sohn. Das ist furchtbar traurig und geht einem sehr nahe. Aber ein kleiner Trost war, dass sie ihren Sohn bei ihrem Bruder gut aufgehoben wusste.

Menschen können auch an schwierigen Dingen zusammenwachsen, aber nicht wenn wir sie ausklammern. Tod und Trauer gehören zum Leben dazu. Was aber Menschen berichten, die einen Angehörigen verloren haben, ist, dass sie plötzlich gemieden statt getröstet werden. Weil die anderen nicht so richtig wissen, was sie sagen, was sie tun sollen. Und dann sagen und tun sie lieber gar nichts.

Das ist dann eine doppelte Strafe. Das geht auch schon vorher Menschen so, mit einer lebensverkürzenden Erkrankung. Deshalb zeigen wir in dem Film auch einen „Letzte-Hilfe-Kurs“ – das gibt es wirklich! Da lernt man zum Beispiel, wie man jemandem die Hand hält oder so über den Arm streichelt, dass es für beide Seiten angenehm ist.

Woraus, glauben Sie, speist sich die Angst vor dem Tod?

Tot sein, heißt, nicht mehr mitspielen dürfen. Das ist für viele offenbar die schrecklichste Vorstellung. Machen Sie mal folgendes Gedanken-Experiment: Was fänden Sie schlimmer? Die Bombe, die nur Sie trifft, und alle anderen leben weiter? Oder die Bombe, durch die auch alle um Sie herum tot sind?

Also… ähm…

Sie brauchen sich jetzt nicht zu outen. Man hat herausgefunden, dass viele es akzeptabler fänden, wenn sie einer unter vielen Toten sind –nicht der einzige, der gehen muss, und alle anderen sind noch da und haben und ihren Spaß. Der Tod hat eben auch etwas sehr Egoistisches.

Da mag ich die Kölner die sagen: Man muss auch gönnen können! Wir hatten unseren Spaß, jetzt sind die anderen dran und dürfen die Zukunft gestalten. Das bringt mich auf die Frage, die die Schimpansenforscherin Jane Goodall mit ihren über 80 Jahren mir tief ins Herz gesetzt hat.

Nämlich?

Wenn der Mensch wirklich die intelligenteste Art von Lebewesen auf dieser Erde ist – warum zerstört er dann mutwillig sein eigenes Zuhause und das seiner Kinder? Die größte Herausforderung, vor der wir heute stehen, lautet: Was können wir – verdammt noch mal – gegen die Überhitzung unseres Planeten tun? Und wie kommen wir möglichst in den nächsten fünf bis zehn Jahren davon weg, immer mehr Kohlendioxid in die Luft zu pusten. 

Der Klimaschutz als Frage von Leben und Tod?

Absolut. Wir müssen uns bewusst machen, dass unser jetziger Lebensstil für die ganze Menschheit tödlich ist. Aber wir sind Meister im Verdrängen. Wenn wir zum Beispiel im Supermarkt bei jedem Stück Fleisch, das wir kaufen, einen Eimer mit 20 Litern Gülle mitbekämen, die das Schlachttier vorher produziert hat, würde der Fleischkonsum rapide sinken.

Ich stelle mir vor, wie die Kassiererin beim Bezahlen sagt: „Die Gülle haben Sie mit verursacht, die wird also mitgekauft. Wollen Sie für den Eimer noch einen Deckel, oder geht das so mit?“ Aber nein, wir wollen einfach nicht sehen, was wir anrichten. Und wir suchen krampfhaft nach Einwänden gegen die, die uns den Spiegel vorhalten.

Woran denken Sie?

An Greta Thunberg zum Beispiel. Da heißt es dann, die benutzt doch auch Plastiktüten! Und wenn sie im September von der Klimakonferenz in New York zurückfliegt, verbraucht sie doch auch CO2… Alles Abwertungsmanöver, anstatt zu überlegen: Was hat sie uns zu sagen? Worauf will sie hinweisen? Und womit haben die Jugendlichen Recht, wenn sie am 20.9. zum globalen Streik aufrufen?

Und worauf wollen Sie hinweisen?

Falsch finde ich schon mal den Hinweis, jeder solle bitteschön bei sich selber anfangen - mit maximalem Verzicht und moralischer Selbstkasteiung. Nein! Wir brauchen die persönliche Verhaltensänderung, ja. Aber wir brauchen vor allem andere Gesetze. Warum ist fliegen so billig? Weil die Folgekosten nicht eingepreist sind. Wenn wir technisch längst bei 100 Prozent erneuerbaren Energien sein könnten, warum wird immer noch das falsche subventioniert? Warum gibt es keine gescheiten Schnellzüge in Deutschland, zum Beispiel zwischen Bonn und Berlin? Das kann ja keiner alleine bewirken, sowas muss Politik steuern. Aber solange Leute aus dem Umwelt- und dem Gesundheitsministerium dauern zwischen Berlin und Bonn hin und her fliegen, tragen die weiter zu der größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts bei. 

Sind Sie nicht selber Vielflieger? 

War ich mal – aber zu meinem Geburtstag habe ich mir gerade eine Bahncard 100 geschenkt und versuche meinen Abdruck etwas zu reduzieren. Mir war auch lange nicht klar, wie eng der Zusammenhang von Klimawandel und Gesundheit ist. Wir haben ein sehr aufwendiges Gesundheitswesen, aber die Grundlage von Gesundheit sind keine Medikamente und Operationen, sondern Voraussetzungen, die kein Arzt schaffen könnte: gesunde Luft, sauberes Wasser, gute Lebensmittel und erträgliche Außentemperaturen. Was nutzt die ganze Hochleistungsmedizin, wenn sie in einer Umwelt stattfindet, die krank macht? Viele Diskussionen gehen fälschlich immer noch um Kosten und Verzicht. Ich probiere gerade das gerade aus und fühle mich bestens.

Weniger Fleisch, weniger Zucker, weniger Auto, mehr Fahrrad – das ist in Wahrheit kein Verzicht, sondern ein Gewinn an Lebensqualität und Gesundheit. Für einen selber und den Planeten. Ich teste das gerade an mir und fühle mich bestens. Wir reden zu wenig darüber, in welcher Welt wir leben wollen. Und da sehe ich meinen Wirkungskreis für die zweite, bessere Lebenshälfte: Wenn das Leben endlich ist, wann fangen wir endlich an zu leben? Und wenn die Ressourcen unserer Erde endlich sind, wann denken wir das endlich mit? 

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