„Autismus ist keine Krankheit, es ist Teil der Identität“Warum Ehrenfelder Verein Wohnzimmerkonzerte veranstaltet

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Vier Frauen musizieren vor einer Fensterfront in einem Raum, eine hält eine Gitarre, eine steht am Keyboard, alle vier singen.

Song of the Sirens, Mone, Tess Daniel, Lotta St Joan und Olivia Void (von links), spielen in einem privaten Wohnzimmer.

Ehrenfelder Verein organisiert Konzerte in Wohnzimmern und Gärten. Das „Untypical Hangout“ profitiert von der intimen Atmosphäre.

Vier Frauen stehen mit Socken auf einem grauen Teppich. Neben ihnen eine grüne Zimmerpflanze. Vor ihnen Menschen auf Stühlen oder Bänken, die sie mit erwartungsvollen Blicken anschauen. Im Raum herrscht Stille, bis sie die ersten Gitarrenseiten anschlagen und singen. Aus ihren sanften Stimmen ergibt sich eine melancholische Harmonie, die das Publikum berührt. „Es war ein sehr besonderes Konzert“, so Tobias Leifeld, Gründer des Vereins Living Room Concerts Cologne, zum Abschluss des Wohnzimmerkonzerts am Samstagabend, auf dem die Band „Song of the Sirens“ in Ehrenfeld spielte. Die Menschen klatschen begeistert.

Geheime Wohnzimmerkonzerte in Köln

Leifeld ist Gitarrist, Sänger, Songwriter und hat 2017 in seiner eigenen Wohnung angefangen. „Es war ein witziger Zufall“ so Leifeld. Über Couchsurfing lernte er einen Musiker kennen. Er lud Freunde zu sich ein, und sie spielten spontan ein Konzert in seinen eigenen vier Wänden. So kam ihm die Idee der Wohnzimmerkonzerte. 2021 kam Heiko Lohmann ins Team. Gemeinsam veranstalteten sie offene Bühnen im Kulturraum 405 in Ehrenfeld, die auch heute noch alle zwei Wochen stattfinden. Seit Frühling 2022 organisieren sie mit einem ehrenamtlichen Team wöchentlich Konzerte in privaten Räumlichkeiten. Sei es ein Wohnzimmer, Garten oder anderer Raum. „Bisher waren alle Gastgeber begeistert“, so Leifeld. Einige haben ihre Wohnung bereits mehrmals zur Verfügung gestellt.

Ich fand es sehr schön an einen Ort zu kommen, den ich nicht kenne und mich überraschen zu lassen.
Christiane Elle, Konzertbesucherin

Die Konzerte sind in in der Regel akustisch ohne Mikrofone und Verstärker. Dabei entstehe eine besondere Nähe, sagt der Gründer. Beim Kauf der Karten sind die Künstler sowie der genaue Ort unbekannt. „Ich fand es sehr schön, an einen Ort zu kommen, den ich nicht kenne und mich überraschen zu lassen“, sagt Christiane Elle, die das Konzert besucht, „Ich fand die Musik sehr schön, sehr vorsichtig, weiblich und zart“. „Zu 99 Prozent sind es Singer, Songwriter, Gitarre, Klavier und Gesang“, sagt Leifeld, „unabhängige, unbekanntere Musiker“. Viele der Künstler entdecken sie auf Instagram oder erhalten Anfragen über die Webseite. Bei der Auswahl sind sie wählerisch und achten auf Qualität.

Ehrenfelder Verein macht auf Autismus aufmerksam

Es geht es aber nicht nur um Musik, sondern auch um Autismus auf ihren Veranstaltungen. Grelles Scheinwerferlicht, laute Geräusche, große Menschenmengen. All das sind unsichtbare Barrieren, die Autisten die Teilnahme an herkömmlichen Konzerten erschweren. Deshalb gestaltet der Ehrenfelder Verein seine Veranstaltungen barrierefrei und leistet Aufklärungsarbeit. Vor den Terminen senden sie Informationen, bieten einen Rückzugsort und agieren als Ansprechpartner auf dem Event. Sie achten auf überfordernde Reize wie Lautstärke und klären mit Plakaten auf über Diskriminierung, Kommunikation und Verhaltensweisen wie dem Augenkontakt. Wenn Autisten ihrem Gesprächspartner nicht in die Augen schauen, so sei dies kein Zeichen von Respektlosigkeit oder fehlendem Vertrauen. Die Person müsse viele Reize verarbeiten, denn Autisten nehmen die Welt intensiver wahr.

Leifeld ist selbst Autist. „Autismus ist keine Krankheit“, sagt er, „es ist Teil der Identität“. In der Gesellschaft herrschen veraltete Bilder wie, dass Autisten nicht emphatisch seien. Autismus sei ein weites Spektrum, und jeder ist anders. Es gibt autistische Menschen, die sich besonders gut in andere hereindenken und auf sie eingehen können. Einigen fällt es schwer auf Fremde zuzugehen, aber auch das sei individuell. Nicht autistische Menschen können Struktur geben und Ansprechpartner sein, so Leifeld. Von der Gesellschaft wünschen sie sich Verständnis, Offenheit für andere Verhaltensweisen und das Mitdenken anderer Lebensrealitäten, auch bei kulturellen Veranstaltungen. 

Durch den Austausch zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen wollen sie Barrieren abbauen. Mit dem „Untypical Hangout“ haben sie dafür ein neues Format ins Leben gerufen. Ein Treffen, das einen sicheren Raum schafft, in dem sich Autisten wohlfühlen und vernetzen können. In kleineren Gruppen sprechen sie über verschiedene Themen wie Kunst, Kultur, barrierefreie Orte. Die erste Veranstaltung am 30. Juli im Kulturraum 405 in Ehrenfeld fand großen Anklang. In Zukunft planen sie regelmäßige Treffen, denn der Bedarf sei da. 


Das nächste „Untypical Hangout“ findet am 20. August im Kulturraum 405 von 14 bis 18 Uhr statt. Interessierte können sich über die Webseite anmelden: www.livingroomconcertscologne.de

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