Die Leipziger Strafrechtlerin Elisa Hoven diskutiert die Frage, ob Politiker für falsche Wahlversprechen bestraft werden sollten.
Gastbeitrag Elisa HovenDas Ende der Wahrheit?

Elisa Hoven auf der Bühne der ARD/ZDF Literaturbühne auf der Frankfurter Buchmesse in Frankfurt/Main Hessen.
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Otto von Bismarck soll bereits Ende des 19. Jahrhunderts gesagt haben: „Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“ Dass in der Politik gelogen wird, dürfte die wenigsten überraschen. Laut einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung glaubten schon im Jahr 2013 fast 90 Prozent der Deutschen, dass Politiker die Unwahrheit sagen. In einer Umfrage von 2023 bekundete ein Viertel der befragten Bürger, dass die Regierenden das Volk „betrügen“; unter AfD-Wählern stimmten sogar 81 Prozent dieser Aussage zu.
Jüngst erschütterten erst die Umstände beim unrühmlichen Ende der Ampel-Koalition das Vertrauen in die Ehrlichkeit von Politikern. Das Zustandekommen der neuen schwarz-roten Koalition trug dazu dann bedauerlicherweise bruchlos bei. Friedrich Merz positionierte sich als Unionskanzlerkandidat im Wahlkampf konsequent gegen ein Aufweichen der Schuldenbremse. Doch noch bevor der neue Bundestag seine Arbeit aufgenommen hat, war diese Deklamation – in Anlehnung an ein Wort Konrad Adenauers – nur noch Geschwätz von gestern. Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter gab im Talk bei „Markus Lanz“ freimütig zu, dass man der Bevölkerung im Wahlkampf nicht die Wahrheit sagen wollte – aus Sorge, dass die Aussicht auf weitere Militärausgaben gerade im Osten das BSW oder die AfD stärken würde.

Die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven
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Ein solches Vorgehen ist nicht nur grob unethisch, es untergräbt auch das Vertrauen der Menschen in die politischen Parteien. Wer so agiert, der kann sich über wachsende Zustimmung für die AfD nicht ernsthaft wundern. Hier setzt die Idee an, Politikerinnen und Politiker für falsche Versprechen im Wahlkampf zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Online-Petition forderte schon 2014: „Wahlversprechen sollen in Zukunft bindend sein. Politiker, die ihre Wahlversprechen nicht einhalten bzw. sie gänzlich verraten, haben sich des Betrugs schuldig gemacht. Daher ist der Straftatbestand des Erschleichens von Wählerstimmen aufgrund von Vortäuschen falscher Tatsachen in das StGB aufzunehmen.“
Wählertäuschung ist bereits strafbar
Aber gibt es einen solchen Straftatbestand nicht bereits? In Paragraf 108a des Strafgesetzbuchs wird die „Wählertäuschung“ unter Strafe gestellt. Dort heißt es: „Wer durch Täuschung bewirkt, dass jemand bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder gegen seinen Willen nicht oder ungültig wählt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Hier geht es allerdings nur um sogenannte Erklärungsirrtümer: Der Wähler müsste etwas erklären, was er so gar nicht erklären wollte. Ein Beispiel: Jemand denkt, dass er oder sie die eigene Stimme für eine Kommunalwahl abgibt, während es sich in Wahrheit um die Bundestagswahl handelt. Das ist kein besonders realistisches Szenario. Daher gibt es praktisch auch keine Verurteilungen nach dem genannten Straftatbestand.
Nicht unter Paragraf 108a StGB fallen die sogenannten Motivirrtümer, wenn also Wähler ihre Wahlentscheidung auf Grundlage falscher Informationen treffen. In dieser Lage wissen sie trotzdem, was sie „erklären“ – nämlich die Stimme für Partei X oder Partei Y. Damit scheidet eine Strafbarkeit aus. Lügen im Wahlkampf werden vom Gesetz also nicht sanktioniert, selbst wenn damit ganz bewusst Wähler getäuscht werden sollten.
Die Demokratie ist keine freie Marktwirtschaft
Wäre es also richtig, einen neuen Straftatbestand zu schaffen, der falsche Wahlversprechen verbietet? Ein verbreitetes Gegenargument: Es brauche keine Regelungen, denn der Wähler könne ein solches Verhalten schließlich bei der nächsten Wahl selbst durch eine veränderte Stimmabgabe sanktionieren. Das ist aber weder effektiv noch wünschenswert. Die Demokratie ist keine freie Marktwirtschaft. Das System reguliert sich nicht auf diese Weise selbst. Die Bürgerinnen und Bürger wählen den Bundestag nur alle vier Jahre. Ob am Ende einer Legislaturperiode ein Jahre zuvor gebrochenes Wahlversprechen noch maßgeblichen Einfluss auf die Stimmabgabe haben wird, darf bezweifelt werden.
Stattdessen entsteht bei immer mehr Wählern ein allgemeines Gefühl der Enttäuschung, und das Vertrauen in die Integrität der Politik geht verloren. In der Folge kehren immer mehr Menschen den etablierten Parteien den Rücken, wählen aus Protest radikale Parteien, um ihre Unzufriedenheit mit einer als unehrlich empfundenen Politik auszudrücken.
Erlaubter Sinneswandel
Gebrochene Wahlversprechen über einen Tatbestand zu bestrafen, wie er in der erwähnten Petition gefordert wurde, ist jedoch aus anderen Gründen nicht empfehlenswert. Für eine Strafbarkeit muss man nachweisen können, dass der Politiker bereits im Wahlkampf davon ausging, sein Versprechen nicht einlösen zu können. Nur dann liegt zum Zeitpunkt der Handlung eine Täuschung vor, an die ein strafrechtlicher Vorwurf anknüpfen könnte.
Im Fall der Schuldenbremse scheint das denkbar. In den meisten Fällen dürfte der Nachweis allerdings kaum möglich sein. Allein die Tatsache, dass später gemachte Zusagen nicht eingehalten werden, kann für eine Sanktion nicht ausreichen. Der Sinneswandel kann schließlich am Unwillen des Koalitionspartners liegen, ein bestimmtes Vorhaben umzusetzen, aber auch daran, dass sich Situationen und Bewertungsgrundlagen ändern. Außerdem gilt ein weiterer Satz Konrad Adenauers: „Nichts hindert mich, weiser zu werden.“
Politiker können legitimerweise zu dem Ergebnis kommen, dass eine im Wahlkampf getroffene Einschätzung falsch war, sie dürfen nach Beratungen in Ausschüssen oder Expertengespräche ihre Meinung ändern. Das ist Ausdruck des in Artikel 38 des Grundgesetzes verankerten freien Mandats. Eine einklagbare, rechtliche Bindung an einmal gemachte Versprechen wäre damit nicht vereinbar.
Um nachzuweisen, dass eine Aussage bereits im Wahlkampf nicht ehrlich war, müssten Polizei und Staatsanwaltschaften zudem weitreichende Ermittlungen anstellen. Bei einem Anfangsverdacht müssten im Zweifel Handys und Computer von Ministern und Kanzlern beschlagnahmt werden. Ein solcher Übergriff der Judikative auf die Exekutive wäre auch aus rechtsstaatlichen Gründen hoch problematisch.
Einen Trost gibt es: Die Politologin Elisa Deiss-Helbig hat in einer Studie herausgefunden, dass rund 60 Prozent der Wahlversprechen auch umgesetzt werden. Stehen sie im Koalitionsvertrag, sind es sogar 80 Prozent. Um die Wahrheit im politischen Wettbewerb scheint es also doch nicht so schlecht bestellt zu sein.
Diskussion: Ende der Wahrheit?
Elisa Hoven im Gespräch mit Joachim Frank, Chefkorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Donnerstag, 4. Dezember, 19 Uhr. Zentralbibliothek Köln (Interim), Hohe Straße 68-82, 50667 Köln. Eintritt: 8 Euro (ermäßigt 6 / 4 Euro). Karten bei Kölnticket oder an der Abendkasse (nach Verfügbarkeit).
Elisa Hovens Buch „Das Ende der Wahrheit?“ ist im DuMont Buchverlag erschienen, 256 Seiten, 24 Euro.

