Fünf Jahre Missbrauchsstudie„Es gab katholische Seilschaften zulasten der Opfer“

Lesezeit 4 Minuten
Eine Skulptur des 1991 verstorbenen Bischofs Franz Hengsbach, entworfen und ausgeführt von der Künstlerin Silke Rehberg, steht vor dem Essener Dom. Die katholische Kirche untersucht Missbrauchsvorwürfe gegen den Gründerbischof des Ruhrbistums und späteren Kardinal Hengsbach. Sein Denkmal am Essener Dom soll nun abgebaut werden.

Das Bistum Essen hat Missbrauchsvorwürfe gegen den 1991 verstorbenen Kardinal Franz Hengsbach öffentlich gemacht. Das Denkmal für den Bistumsgründer am Essener Dom soll nun abgebaut werden.

Vor fünf Jahren erschien die MHG-Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche. Der Staatsrechtler Stephan Rixen, Podiumsgast im KStA-Talk „frank&frei“, bewertet die Folgen.

Herr Professor Rixen, vor genau fünf Jahren erschien die bundesweite „MHG-Studie“ zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands. War diese Publikation das, was man heute als „Gamechanger“ bezeichnet, der Moment einer entscheidenden Wende?

Wende wäre mir zu hoch gegriffen. Die MHG-Studie war insofern ein wichtiger Schritt in Richtung Aufarbeitung, als die zuvor geschlossenen Türen der Kirche erstmals Stück weit aufgingen und so erstmals ein wissenschaftlich fundierter, externer Blick auf Strukturen des Missbrauchs und der Vertuschung möglich wurde. In allen Bistümern, die mit unabhängigen wissenschaftlichen Studien Aufarbeitung ermöglichen, kommt Licht ins Dunkel.

An der Wissenschaftlichkeit der MHG-Studie gibt es bis heute Zweifel. Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer wird nicht müde, sie zu formulieren.

Professor Stephan Rixen, Direktor des Instituts für Staatsrecht an der Universität zu Köln

Professor Stephan Rixen, Direktor des Instituts für Staatsrecht an der Universität zu Köln

Ich bin überrascht, wer sich alles zum Experten für medizinische und sozialwissenschaftliche Forschung aufschwingt und meint, die Ergebnisse der MHG-Studie schlechtreden zu können. Die Kritik ist weder von Sachkenntnis getrübt noch von Fairness. Die Autoren haben sich auf ein Verfahren eingelassen, von dem sie wussten, dass es Limits enthielt – etwa beim Zugriff auf die Quellen. Aber sie haben das getan, was gute Wissenschaftler in so einer Situation tun: erstmal anfangen.

Es braucht weiterhin Anstöße von außen - vor allem durch den Rechtsstaat.
Professor Stephan Rixen

Wie bewerten Sie die Konsequenzen, die seit 2018 gezogen oder eben auch nicht gezogen wurden?

Es ist vieles in Bewegung gekommen, allerdings wenig koordiniert und nicht immer zielgerichtet. Das liegt daran, dass letztlich jeder Bischof selbst bestimmt, was in seinem Bistum passieren soll. Es gibt sehr gute Ansätze wie etwa im Bistum Münster, wo die Aufarbeitungskommission offenbar mit großer Unabhängigkeit und Sachkenntnis arbeitet. Von vielen anderen Kommissionen wissen wir nicht viel. Und mir scheint, es braucht weiterhin die Anstöße von außen – vor allem durch den Rechtsstaat. Wie nötig das ist, zeigen die jüngsten Enthüllungen um die Missbrauchsvergangenheit des verstorbenen Essener Kardinals Franz Hengsbach. Es kann nicht sein, dass die Fakten mehr als zehn Jahre vorliegen, aber kirchenintern weggeredet und weggeschlossen werden.

Was sollte der Staat also tun?

Einen Rechtsrahmen mit verbindlichen Standards für Aufarbeitung in allen Institutionen setzen und auf Landesebene entsprechende Kommissionen einrichten. Der Landtag von NRW hat das Thema wiederholt beraten, er sollte jetzt endlich die nötigen Entscheidungen treffen. Völlig klar ist doch: Wenn man Institutionen – den Kirchen, den Sportverbänden – die Aufarbeitung allein überlässt, ist die Gefahr des Selbstschutzes enorm. Es darf am Ende nicht vom guten Willen einzelner Funktionäre abhängen, ob Aufarbeitung gelingt oder nicht.

Es gab katholische Seilschaften, die zu einer Kumpanei zwischen Kirche und Justiz zulasten der Opfer geführt haben.
Professor Stephan Rixen

Und was ist mit dem Versagen der staatlichen Institutionen selbst, der Schulen – oder auch der Justiz?

Selbstverständlich dürfen öffentliche Einrichtungen wie die Schulen, die Heimaufsicht, die Jugendämter bei der Aufklärung und Aufarbeitung ebenso wenig ausgespart werden wie Staatsanwaltschaften und Gerichte. Ich würde nicht von einem Versagen „der Justiz“ sprechen, aber ganz klar gab es in der Vergangenheit katholische Seilschaften, die zu einer Kumpanei zwischen Kirche und Justiz zulasten der Opfer geführt haben.

Zur Person

Stephan Rixen, geb. 1967, ist Direktor des Instituts für Staatsrecht an der Universität zu Köln. Er ist Mitglied der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ auf Bundesebene. (jf)

Zur Studie

Die MHG-Studie, benannt nach den Universitätsstädten der beteiligten Wissenschaftler (Mannheim, Heidelberg, Gießen), sollte Art und Umfang des sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche in Deutschland von 1946 bis 2014 untersuchen. Die Ergebnisse wurden am 25. September 2018 vorgestellt. Die interdisziplinäre Forschergruppe kam auf 1670 beschuldigte Geistliche (rund vier Prozent aller Kleriker) und 3677 Opfer. Die Studie benennt auch missbrauchsbegünstigende Faktoren wie asymmetrische Machtverhältnisse, das Klerikerbild und die Sexualmoral der katholischen Kirche. (jf)

Podiumsdiskussion frank&frei

Fünf Jahre MHG-Studie sind Thema einer Diskussion bei „frank&frei“, der Talkreihe des „Kölner Stadt-Anzeiger“ in der Karl-Rahner-Akademie. Chefkorrespondent Joachim Frank spricht mit dem Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Helmut Dieser (Aachen), der Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Birgit Mock, dem Sprecher des Betroffenenbeirats bei der DBK, Johannes Norpoth, und dem Staatsrechtler Stephan Rixen.

www.karl-rahner-akademie.de/programm

Donnerstag, 28. September, 19 Uhr, Jabachstraße 4-8, 50676 Köln. Eintritt: 10 Euro (ermäßigt und mit KStA-Abocard 5 Euro).

Anmeldung: Telefon 0221/801078-0.

KStA abonnieren