Gut LeidenhausenDie Talente des Flossenspringers

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 MOMENTAUFNAHME Spielplatz Gut Leidenhausen 15 bis 16.30 Uhr

 MOMENTAUFNAHME Spielplatz Gut Leidenhausen 15 bis 16.30 Uhr

Porz – 15 Uhr Wenn an einem Sommersonntag 2014 die Sonne herauskommt und das Thermometer fast 20 Grad zeigt, ist – klar – halb Köln in der Wahner Heide. Der Parkplatz vor Gut Leidenhausen ist überfüllt. Drei Männern mit Undercut (Seiten rasiert, Haupthaar nach oben gegelt) und Muskelshirt ist das Wetter eine Sau wert: Zwischen geparkten Autos grillen sie ein Spanferkel. Die Wildschweine in dem Gehege vor dem Naturspielplatz müssten eigentlich platzen: Dutzende Ausflügler stehen vor dem Zaun, um Kartoffeln und Brot hineinzuschmeißen. Die Mülleimer sind überfüllt mit Spaghetti, die ausdrücklich verboten sind. Nudeln quellen im Magen der Wildschweine und können den Darm verschließen. Leon (3) wirft einem Ferkel eine Salzstange auf den Rücken, bevor er zu Papa und Mama zurückwatschelt und sagt: „Ich bin König Deutschland!“ „König von Deutschland“, verbessert Mama. „König Deutschland“, beharrt Leon.

15.12 Uhr Ein Abenteuerspielplatz ist für Eltern das Gegenteil eines Abenteuers. Zu besichtigen sind Frauen, die darauf fokussiert sind, dass ihre Kinder nicht vom Klettergerüst fallen und Männer, die mit gequälter Miene Sandburgen bauen. Vor der Seilbahn hat sich eine Warteschlange gebildet. „Anstehen auf dem Spielplatz, das ist eigentlich das Letzte“, sagt Julia, Mama von Anna. „Meiner kann noch nicht so gut anstehen“, sagt Julias Freundin Nava. Navas Sohn Arvin wollte sich soeben vordrängeln, er hatte schon ein Mädchen abgedrängt, da hat Nava ihn gegriffen und auf den Arm genommen. Jetzt schreit Arvin und tritt Mama in die Seite. Beim Brüllen verliert er seinen Schnuller, der im Sand landet.

15.23 Uhr Vor dem Klettergerüst liegt schlafend ein Vater mit seiner Tochter im Arm, an einer der Sitzgruppen machen vier kopftuchtragende Mütter kichernd ein Selfie, ein übergewichtiger Teenager im Deutschlandtrikot und sein ebenfalls übergewichtiger Vater probieren jedes Spielgerät aus und lachen sich kaputt.

15.28 Uhr Vor der Seilbahn sitzen drei blonde Mütter mit Sonnenbrille. Dana, Johanna und Yvonne sind in Köln zusammen zur Schule gegangen, längst leben sie verstreut im Umland; und treffen sich, wann immer das Wetter es am Wochenende zulässt, auf dem Spielplatz in der Wahner Heide, um bei Kaffee und Keksen über Kinder und Männer zu reden. „Heute eher über Männer“, sagt Dana, guckt zu ihrer Freundin und lacht ein bisschen gequält. „Man hat hier etwas Zeit für sich, weil das Gelände sehr groß ist und es für jedes Alter Spielgeräte gibt.“ Die sechs Kinder, alle zwischen drei und acht, schwirren irgendwo rum, „Hauptsache nicht Richtung Autobahn oder Wald, da laufen wir dann doch hinterher“.

15.54 Uhr Marc (9) war eben bei den Greifvögeln im Gut Leidenhausen, jetzt übt er den „Flossensprung“ von der Schaukel in den Sand. Flossensprung hat er seinen Sprung mit leicht gespreizten Beinen genannt, „weil ich dabei so stromlinienförmig wie ein Fisch sein will“. Er misst von der Schaukel bis zur Landemulde, „ungefähr 5,50 Meter, Rekord“. Marc hat weder Flossen noch Flügel, ist aber trotzdem ein ungewöhnlicher Vogel. Nicht, weil sein Vater Michael das sagt. Jeder Vater sagt von seinem Kind, dass es ungewöhnlich ist. „Er ist wohl ein bisschen hochbegabt“, sagt Michael Schnieder, der ein Deutschland-Käppi, Deutschland-Uhr und Jogginganzug trägt. „Im Moment lernt er die lateinischen Namen exotischer Früchte.“ Marc hat das schaukelnd mitbekommen und fragt: „Kennen Sie die Hypocereus undatus?“ Nein. „Das ist die Pitahaya.“ Pita, was? „Pita-Brot kennen Sie doch, oder? Und dann »haya« mit Ypsilon. Drachenfrucht nennt man sie auch, das können Sie sich vielleicht besser merken.“ Ja, Drachenfrucht. „Es gibt keine exotische Frucht, die vor mir sicher ist“, sagt Marc. Sein Favorit ist die Süße Granadilla – Passiflora ligularis. Bevor er die lateinischen Namen exotischer Früchte lernte, hat Marc die Namen von Death-Metal-Bands auswendig gelernt. Seine Lieblingscombo: „The Black Dahlia Murders“ – die schwarzen Dahlienmörder. Die Liedtexte von Death Metal, so steht es auf Wikipedia, „vermitteln eine nihilistische Weltanschauung, oft kombiniert mit Resignation. Themen wie Tod, Krankheit, Krieg, Folter, Horror...“ Marc interessieren freilich bloß die Bandnamen.

Der Neunjährige hat auch noch andere Hobbys. „Durchs Dorf mit dem Fahrrad düsen, stundenweise.“ Mit vier habe Marc den Kindern in der Kita Bücher vorgelesen, sagt Papa Michael. Der, was eigentlich macht? „Mein Papa schleppt Pakete“, ruft Marc von der Schaukel. „Und tagsüber habe ich einen Zweitjob im Immobilienbüro.“ Lernen sei ihm auch immer leicht gefallen, „ich war nur stinkfaul“, sagt Michael Schnieder. Marc ist wieder abgehoben und eher hoch als weit geflogen. „Zu früh abgesprungen“, sagt er. „Es hilft nur ausprobieren, sonst erreicht man gar nix.“

16.25 Uhr Für die Lebensgeschichten von Torsten, Yvonne, Biene und Felix ist der Spielplatz ein bedeutender Ort. Als Teenager haben sie hier abgehangen und gewartet, dass das Leben endlich anfängt. Eine Seilbahn habe es damals schon gegeben, dazu ein rostiges Klettergerüst, sonst nichts, erinnern sie sich. Jetzt haben die vier, die sich als Kinder kennengelernt haben, weil ihre Eltern befreundet waren, selbst Kinder. Paul (2) und Philipp (4) wollen Fußball spielen, Biene will gehen, weil dunkle Wolken nahen. Es war heute kein gedanklicher Ausflug in die Jugend möglich, obwohl die vier das erste Mal seitdem zusammen hier waren. „Die Kinder“, sagt Yvonne, „halten einen im Jetzt.“

16.30 Uhr Lucie und Lara (5) wippen. Lucie feiert ihren sechsten Geburtstag hier – und ihre Einschulung. Lara kommt erst nächstes Jahr in die Schule. „Dafür hat Lara schon vier Zähne raus und ich erst drei“, sagt Lucie. Und zeigt ihre Zahnlücke.

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