„Ich bin Mads“Lokomotivführer, Dinobändiger, Zoodirektor, Sternenkind — ein Nachruf

Lesezeit 9 Minuten
Mads 1

Der kleine Mads wurde nur vier Jahre alt.

  • In unserer Serie Nachrufe erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind.
  • Bei den Geschichten geht es nicht darum, ob ein Mensch prominent war oder unbekannt, erfolgreich oder verarmt. Es sollen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben werden.
  • Getreu dem Gedanken: Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Jedes Menschenleben ist einzigartig.
  • Diesmal geht es um Mads. Am 9. April 2020 wurde der Vierjährige von einem LKW erfasst und starb.

Köln – „Wenn du bei Nacht den Himmel anschaust, wird es dir sein, als lachten alle Sterne, weil ich auf einem von ihnen wohne, weil ich auf einem von ihnen lache.“ (Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz) Die Vorstellung, ein Cowboy zu sein, behagte ihm nicht so recht. Es war Karneval 2020, dreieinhalb Wochen vor seinem vierten Geburtstag. Mads wusste schon ziemlich genau, was er an Weiberfastnacht werden wollte, und was nicht. Sein Vater hatte ihm aber nun mal dieses Cowboykostüm geschenkt mit Hut, Lederhose und Weste. Wie man sich das so vorstellt. Väter eben. Söhne eben.

Doch Mads hatte sich das anders vorgestellt. „Ich will kein Cowboy sein“, sagte er. Also ging er mit seinem Vater in den Karnevalsladen, schaute ein bisschen herum und suchte sich schließlich einen grünen Dinosaurier aus, sein Lieblingstier. Zähne statt Revolver. So kann man sich doch sehen lassen beim Karneval im Kindergarten.

An seinem Grab auf dem Südfriedhof gleich neben einem Rhododendron-Busch liegen heute viele kleine Steine, einige sind mit Dinosauriern bemalt, andere mit Vögeln, Katzen, Hasen, Libellen. Seine Mutter hat die meisten davon für ihn bemalt. Besucher haben die anderen dazugelegt. Und Blumen stehen hier, ein buntes Windrädchen, eine Spielzeug-Figur des Kleinen Prinzen.

„Es tut unendlich gut, dass sich so viele Menschen an Mads erinnern und ihn an seinem Grab besuchen“, sagt sein Vater mit Mads‘ einjähriger Schwester Tilda auf dem Arm. Im Sommer brachte er mal einen Dinosaurier-Luftballon hierher, fast so groß wie das Grab selbst. „Das Grab soll sein, wie Mads war. Chaotisch, unaufgeräumt, ständig im Wandel.“ Er spricht bedacht, lächelt ganz kurz, als er herunterschaut auf das weiße Holzkreuz mit dem Namen seines Sohnes.

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Gründonnerstag 2020. Ein spektakulär sonniger Frühlingstag. In Köln bahnt sich das wärmste Osterwochenende seit Jahren an. Die Stadt ist im ersten Corona-Lockdown. Dass es nicht der letzte bleiben wird, vermuten gerade nur die Klugen. Aber draußen ist es viel zu schön, um drinnen zu sein. Und das Leben in der Krise ist viel zu bitter, um kein Eis zu essen. Mads nimmt gleich eine Kugel Vanille. Ein Foto noch für das Familienalbum.

Mads grinsend mit rehbraunen Augen in hellblauer Jeans-Latzhose. Danach geht es raus auf einen Frühlingsspaziergang mit Papa und Tilda. Zehn Wochen ist sie gerade geworden. Es ist der 9. April 2020. Der Tag, an dem Mads zum letzten Mal die Sonne sieht.

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Mads musste schon einmal richtig kämpfen. Am frühen Abend des 17. März 2016 stand es schon schlecht um ihn im Krankenhaus Weyertal. Die Nabelschnur. Vor der Geburt gab es Komplikationen, Sorgen, bange Minuten. „Irgendwann hörte ich Schreie aus dem Kreißsaal. Mir war klar, dass es nur Mads sein konnte. Das war ein solches Glück.“, sagt sein Vater.

Sein Sohn war ein Schwergewicht, wog mehr als vier Kilo bei der Geburt. Sein Name ist die Dänische Version von Matthias und bedeutet „Geschenk Gottes“. Bald fing er an, das Meer zu mögen, die Musik. Weihnachtslieder liebte er. Auch im Sommer.

Der Kleine Prinz wurde Mads' Lieblingsbuch

Und Bücher. Seine Eltern haben ihm immer wieder aus dem Kleinen Prinzen vorgelesen. Von diesem geheimnisvollen Jungen mit dem blonden Wuschelkopf und dem goldenen Schal, der von den Sternen auf die irdische Wüste herunterkommt. Der auf seiner Reise so viel über Freundschaft, Liebe und Mitmenschlichkeit lernt, so viel Respekt und Phantasie mitbringt wie Andere in ihrem Leben nicht. Der Kleine Prinz wurde zu Mads‘ Lieblingsbuch.

„Bei dem Gefühl des Unvermeidlichen lief es mir eisig über den Rücken. Dieses Lachen nie mehr zu hören, ich konnte diesen Gedanken nicht ertragen. Für mich war es wie ein Brunnen in der Wüste.“ (Der Kleine Prinz)

Sein Lachen wird bleiben. „Mads brauchte lange, bis er die ersten Zähne bekam“, sagt sein Vater. „Sein zahnloses Lächeln hatte er so lange, daran erinnern sich alle.“ Oft soll er auch ziemlich verschmitzt gelacht haben, wenn er seinen Eltern mal wieder einen Streich spielte. „Mads war ein Sonnenschein. Es gab keinen Tag, an dem er mal schlecht drauf war. Wenn er aufgewacht ist, hat er immer direkt gegrinst. Faszinierend war das.“

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Der letzte Nachmittag im Leben von Mads. Alles ist in Bewegung. 24 Grad, blauer Himmel. Die Blumen und die Sträucher sprießen, das Leben kehrt zurück auf die Straßen. Die Menschen in der Stadt sind zu Hunderttausenden draußen, hamstern für die Ostertage. In Zollstock, dort, wo er aufwächst, kennt sich Mads schon ein bisschen aus. Von der Welt haben seine Ohren viel gehört, aber seine Augen noch viel zu wenig gesehen. Das hätte alles noch kommen sollen.

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Einmal war Mads derart müde davon, so lange unterwegs zu sein und einzukaufen, dass er sich im Möbelhaus einfach ein Kissen griff, sich mit dem in diese riesige gelbe Ikea-Tüte legte und einfach einschlief.

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Mads hat heute schon viel getobt. Trotzdem nimmt er den Bobbycar mit und fährt mit ihm neben seinem Vater her. Der hat die Einkäufe für das Wochenende in den Händen. Die kleine Tilda trägt er in der Trage vor dem Bauch. Sie ist noch so klein, dass er ihr Köpfchen festhalten muss. Auf dem Höninger Weg biegt von Süden her ein Sattelschlepper ein.

Es bringt ja nichts. Man könnte nun hadern, Erklärungen erzwingen für das Unerklärliche. Forderungen stellen. Dass Lastwagen mehr Spiegel oder Kameras bekommen müssen, dass Speditionen immer einen Beifahrer einzusetzen haben. „Hätte es an dem Tag geregnet, wären wir wahrscheinlich einfach zu Hause geblieben“, sagt der Vater. „Wäre vor der Eisdiele eine Schlange gewesen, wären wir auch nur eine halbe Minute später vorbeigelaufen. Wäre eine Wespe gekommen, die wir erst hätten vertreiben müssen, wären die Schnürsenkel aufgegangen. Aber bei mir gibt es kein ‚hätte, wäre, wenn‘ mehr. Es gibt nur ein ‚ist‘, mit dem man leben muss. Das ist schwierig genug.“ 

Bald wird es wohl einen Prozess bei Gericht geben. Der Staatsanwalt hat den Lkw-Fahrer angeklagt wegen fahrlässiger Tötung. Es gibt ein Gutachten, das ihn klar als Unfallverursacher sieht. „Es tut ihm aufrichtig leid. Er kann sich selbst nicht erklären, wie das passieren konnte“, sagt sein Anwalt Burkhard Benecken. „Er ist doch so erfahren am Steuer.“ Sein Mandant wolle gleich zu Verhandlungsbeginn voll zu seiner Verantwortung stehen und jedes Urteil akzeptieren. Seit dem Unfall kümmert sich ein Psychologe um ihn.

Mads mochte alles, was sich bewegt. Clowns, die Minions, Super Mario. Flugzeuge, Lokomotiven und Züge ganz besonders. Die hätte er sich den ganzen Tag anschauen können, wenn er nur genug Eis hatte für die lange Zeit. „Wir sind manchmal zum Flughafen gefahren und haben die Flugzeuge beim Starten und Landen beobachtet. Das hat er geliebt, der Mads“, sagt sein Vater. „Und wir waren im Biergarten am Hauptbahnhof, haben dort sein Lieblingsgericht gegessen, Schnitzel und Pommes, und geschaut, wie die Züge an uns vorbeifahren“.

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Die Holzeisenbahn zu Hause war zwar spannend, aber draußen war alles noch viel größer. „Immer wenn wir ihn gefragt haben, ob er lieber zu Hause spielen will, oder draußen, war die Antwort klar: Draußen!“ Rennen, klettern, schaukeln. Dieser Bewegungsdrang, diese Energie, dieser Eifer. Aufhören wollte er fast nie. „Wenn er draußen gespielt hat, war es für ihn ein Horror, irgendwann heimkommen zu müssen.“ 

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Es soll Grillhähnchen geben heute Abend. Auf dem Parkplatz vor dem Lidl gibt es welche. Als Mads den Hähnchenwagen sieht, tut er, was er noch nie tat. Er springt vom Bobbycar, läuft schon einmal vor, über die Einfahrt. Sein Vater kann mit den Tüten in der Hand nicht hinterherrennen, ohne Gefahr zu laufen zu stolpern und Tilda zu gefährden. Es ist kurz vor 16 Uhr. Von links biegt der Sattelschlepper ein. Der Fahrer sieht den Jungen nicht. Er erfasst ihn mit dem vorderen rechten Reifen. Mads hat keine Chance. Der Lkw fährt noch ein paar Meter weiter, bis der Fahrer die Schreie der Passanten hört, ihr Winken versteht. Einige Augenzeugen kommen direkt herbei und leisten Erste Hilfe.

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17. März 2020. Mads‘ vierter Geburtstag. Dass es sein letzter sein sollte, wusste keiner. Mads war mit Eltern und Oma im Opelzoo im Taunus. Er liebte die Tiere über alles. Die kleinen und die großen. Bienen, Krokodile, Elefanten. Nur den Dinos begegnete er nie im Zoo. Dafür woanders. Im Odysseum in Kalk gibt es einen lebensgroßen Tyrannosaurus Rex, nachgebaut aus Lego-Steinen. Was für andere Kinder bedrohlich aussieht, fand Mads faszinierend. Er wäre am liebsten nie mehr weggegangen. „Dinosaurier gibt es nicht mehr, sagt Papa, aber ich glaube, dass wir sie nur nicht sehen können, weil sie ganz weit weg wohnen, im tiefen Wald, oder in einem anderen Land, vielleicht auch im tiefen Meer, oder vielleicht ganz hoch oben am Himmel, so weit, dass wir sie nicht sehen können“, wird ihn seine Trauerrednerin sagen lassen.

In den Wochen danach schlug den Hinterbliebenen ein Mitgefühl entgegen, mit dem sie nicht gerechnet hatten. Bekannte, Nachbarn, auch völlig Fremde wollten Anteil nehmen. Die Bochumer Sternenkind-Fotografin Isabelle Lidke sammelte Spenden für die Familie, um die Beerdigung mitzufinanzieren. Die Eltern haben einen Kanal bei Instagram auf seinen Namen getauft, wo sie ihm immer noch regelmäßig Fotos, Videos und Grüße schicken. „Ich bin Mads“ heißt die Seite, die ihn in vier Worten beschreibt. Lokomotivführer, Dinobändiger, Zoodirektor, Sternenkind. Überall in Zollstock haben sie Abziehbilder mit seinem letzten Foto mit der hellblauen Jeans-Latzhose auf Ampel- und Laternenmasten geklebt. Ihre Botschaft: „Erinnert euch an ihn, nicht an sein Schicksal.“

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Nach ein paar Minuten ist der Notarzt da. Er hat alle Mühe, bis er den Jungen reanimiert und für den Transport ins Krankenhaus stabilisiert hat. Sein Vater sitzt neben ihm im Rettungswagen. Mads kämpft gegen den Tod. Mehrere Stunden noch. Am frühen Abend ist es aus. Mads wurde vier Jahre und 23 Tage alt.

Der Schmerz. Das Weiterleben. So recht will das immer noch nicht zusammenpassen, sagt der Vater ein Jahr danach. „Es ist, als würde man in der Hölle einschlafen und jeden Tag dort aufwachen. Man kommt da nicht mehr raus.“

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Mads ist jetzt bei den Sternen. Auf der Trauerfeier läuft das Lied aus der Sendung mit dem Elefanten. „Die Welt ist elefantastisch“, heißt es ganz zum Schluss, „sie ist wunderschön und wenn du morgen aufstehst, gibt‘s ein Wiedersehn.“ Mads wird in der Kapelle auf dem Südfriedhof aufgebahrt zum Abschied nehmen.

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„Früher habe ich mich immer gefragt, warum es überhaupt Kindersärge gibt“, sagt sein Vater heute. „Kinder dürfen doch gar nicht sterben.“

„Und wenn du dich getröstet hast – man tröstet sich immer –, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben. Du wirst immer mein Freund sein. Du wirst dich erinnern, wie gern du mit mir gelacht hast.“ (Der Kleine Prinz) 

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