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Jesiden in KölnDie Ohnmacht im Wohnzimmer

Lesezeit 5 Minuten

Alia (2. v. l.) hat ihren Cousin verloren, Sherin (Mitte) trauert um ihren ermordeten Onkel.

Köln – In dieser Gremberger Wohnung ist die Ohnmacht der Jesiden so gegenwärtig, dass das Massaker der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) im Nordirak plötzlich nicht mehr abstrakt und weit entfernt ist. Wortlos zeigt Nadhom Al-Kassou das Foto eines Enthaupteten, der brutal entstellt aussieht. Die Terroristen haben das Bild wie Dutzende andere Fotos und Videos auf Facebook veröffentlicht. Auf dem Bild ist der Onkel von Sherin Khidir Hasso zu sehen. Sherin sitzt auf dem Sofa neben ihrem Mann Halef Elias und ihrer Mutter, sie hat das Gesicht in den Händen vergraben. Die 28-Jährige, die vor sieben Jahren nach Köln geflohen ist, wird an diesem Nachmittag nicht aufhören zu weinen.

Die Versammelten eint ihr apathischer Blick, der hin und wieder zum Fernsehbildschirm schweift – es läuft ein kurdischer Sender, der fortwährend aus dem Sindschargebirge und anderen Regionen im Nordirak berichtet, in denen die IS mordet. In dem Gebirge sitzen Tausende Jesiden auf der Flucht fest. Hunderte sind schon verhungert, Hunderte von der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) ermordet worden. Die islamischen Fundamentalisten vergewaltigen Frauen und verkaufen sie. „Sie haben unsere Freunde lebendig begraben“, sagt Elias. „Flüchtlinge haben erzählt, dass sie 300 unserer Frauen verschleppt haben und versklaven wollen.“

Ein anderer zeigt Bilder, die gerade erst auf Facebook veröffentlicht wurden: Kinder und Mütter auf dem Berg, die Schutz im Schatten suchen, verhungerte Kinder mit offenen Mündern und erstarrten Augen.

Jeder der Kölner Jesiden in der Runde kennt Menschen, die gerade auf der Flucht sind. Fast jeder hat schon einen Freund oder Verwandten verloren. Alia zeigt das Bild ihres Cousins Delsher, der für das Foto mit Sonnenbrille posiert hat. Alias Hände zittern. „Delsher ist vor zwei Tagen erschossen worden“, sagt sie. „Er war auch auf dem Berg und hat mit ein paar Mutigen versucht, ins Dorf zurückzukehren, um Essen zu holen. Die Menschen sind ja dort verhungert.“ Ein Bekannter hat in Köln angerufen und erzählt, dass er Delshers Leiche gesehen habe.

Die Medien berichteten erst, seit die USA Kampfflugzeuge entsenden, sagt Baravan Al-Kassou, der mit seinen Eltern vor 14 Jahren aus Angst vor Repressionen aus dem Nordirak geflohen ist, Medizin studiert und jetzt hilft, den ohnmächtigen Jesiden in Köln eine Stimme zu geben.

Schätzungen zufolge leben 50.000 bis 120.000 Jesiden in Deutschland, fast alle sind als Flüchtlinge gekommen. Weltweit hat die Religionsgruppe etwa eine Million Anhänger – viele leben ihren Glauben aus Angst vor Verfolgung nicht offen aus.

Jesiden sind Kurden, die meisten von ihnen sind im Nordirak zu Hause. Als Jeside wird man geboren, konvertieren kann man zum Jesidentum nicht.

Die Anhänger der Gruppe glauben an einen Gott und sieben Engel. Der Engel Malak Taus wird im Christentum und im Islam als „gefallener Engel“ oder Teufel angesehen. Für die Jesiden gibt es allerdings keinen Teufel. Radikale Muslime verleumden Jesiden als „Teufelsanbeter“ – ein Grund dafür, dass sie seit Jahrhunderten verfolgt und ermordet werden. (uk)

Alia kauert in einer Ecke. Wie ihre ältere Schwester Sherin findet sie keinen Weg aus den Tränen. Alia ist vor zweieinhalb Jahren aus dem Nordirak nach Deutschland geflüchtet. Als Jesidin war es für sie zu gefährlich, in die Schule zu gehen. Sie arbeitete in einem Kiosk. Eines Tages wurde sie dort von Islamisten überfallen. Sie brachen ihr drei Finger und hielten sie fest. Was danach geschah, kann Alia nicht erzählen. In Köln geht die 19-Jährige zur Schule. Sie spricht schon sehr gut Deutsch. Für ihr Leid gibt es keine Worte.

Alef Elias bekommt einen Anruf. Immer, wenn ein Handy klingelt, horcht die Gruppe auf. Es könnte ein Verwandter sein. Die Nachricht einer gelungenen Flucht, oder, – wahrscheinlicher – die eines neuen Toten. Gestern hat Elias zuletzt mit einem Bekannten telefoniert, der im Sindschargebirge festsitzt. Einige der Flüchtlinge haben noch Kontakt zur Außenwelt, weil am Rande der Berge ihre Autos stehen. Dort können sie – unter Lebensgefahr – ihr Handy aufladen. Der Bekannte berichtete von neuen Toten.

Die Eltern von Baravan Al-Kassou kamen nach Deutschland, weil sie wollten, dass ihre Kinder angstfrei aufwachsen können und den Beruf erlernen, der ihnen gefällt. Al-Kassous Vater gab dafür seine Arbeit als Arzt auf und eröffnete in Wissen an der Sieg ein Restaurant. Alia kam nach Köln, weil sie missbraucht wurde und um ihr Leben fürchtete. So gehe es nun allen Jesiden im Nordirak, sagt Al-Kassou. „Wer kann in sein Haus zurückkehren, wenn dort die Mutter vergewaltigt oder der Vater erschossen wurde? Wir wünschen uns, dass den Verfolgten in der EU unkompliziert Asyl gewährt wird. Vorher braucht es eine UN-Schutzzone und Hilfe von allen Seiten, um die Ausweitung des Völkermords, der längst begonnen hat, zu verhindern.“

Am Mittwoch trifft sich die Schicksalsgemeinschaft aus der Gremberger Wohnung auf der Domplatte. 500 Jesiden und Menschen, die sich solidarisieren, demonstrieren dort für den Frieden. Einige tragen Stirnbänder mit der Inschrift „Sindschar blutet“, sie erinnern an Märtyrer. In der Mitte der Demonstranten liegen Frauen in rotverschmierten Laken, auf denen steht: „Todeskandidat für ISIS“. Baravan Al-Kassou greift zum Mikrofon und ruft: „Frieden, Frieden!“ Die Rufe hallen nach.