JVA OssendorfBestellungen aus der Gefängniszelle

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Außenansicht der Kölner JVA – im Gefängnis durfte unser Autor nicht fotografieren.

Außenansicht der Kölner JVA – im Gefängnis durfte unser Autor nicht fotografieren.

Ossendorf – Endlich kommen die Bestellbögen. Ricardo Müller (Name geändert) weiß schon im Voraus, was er dieses Mal einkaufen möchte. Schließlich hat er seit Jahren im Gefängnis viel Zeit darüber nachzudenken. Er kalkuliert auf einem Notizblock, welche Kombinationen von Waren er auf die Liste setzen kann. Der 36-jährige überlegt, was ihm am wichtigsten ist: Deo.

Müller ist Häftling in der Justizvollzugsanstalt Köln. Die einzige Möglichkeit, für ihn und die anderen Insassen überhaupt einzukaufen, ist der Gefangeneneinkauf. Lebensmittel wie Rotkohl, Räucherlachs oder Kinderriegel, Zeitschriften, Sportschuhe – Produkte, die außerhalb der JVA frei zugänglich sind, kaufen sie beim Gefängnislieferanten Werner Massak. Über das Internet werden ihre Bestellungen zu seinem Logistikunternehmen in Memmelsdorf bei Bamberg geschickt.

Keine Namen, nur Zahlen

Dort tauchen sie auf dem Bildschirm von Nina Saib, einer Mitarbeiterin im Büro des Logistikunternehmens wieder auf. Doch da steht nichts von einem Deo für Ricardo Müller. Da stehen überhaupt keine Namen, nur Zahlen. Saib erklärt: „Die Nummern hier links, das sind die Codes der Insassen. Und die Zahlen rechts, die die Häftlinge per Hand auf die Bögen geschrieben haben, das sind die Codes für unsere Waren.“ Da dürften laut Gesetz nur Nummern stehen, erklärt Saib: „Das sichert die Anonymität der Häftlinge. Ich weiß nicht, wem ich hier gerade seinen Kakao oder seine Zigaretten schicke. Das sind für mich nur Zahlen.“ Sie stellt eine Liste mit der Ladung für Köln zusammen, die am Abend bevor der LKW aufbricht, in den Händen von Max Linder landet. Er steht im Lager und überprüft, ob seine Mitarbeiter die richtigen Produkte in die Kisten packen.

Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Köln liegt an der Rochusstraße im Stadtteil Ossendorf. Sie wurde nach knapp acht Jahren Bauzeit im Mai 1969 bezogen und ersetzte das innerstädtische, preußische Gefängnis aus dem 19. Jahrhundert. Es wurde später abgerissen, dort befindet sich heute der Klingelpützpark.

Die JVA mit 1170 Haftplätzen wird von einer etwa 1,3 Kilometer langen Mauer umgeben, die nach innen fünf Meter und nach außen zwischen 3,50 und 4,50 Meter hoch ist. Prominente Insassen in Ossendorf waren unter anderem der Kanzleramts-Spion Günter Guillaume und die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof. Auch Beate Zschäpe saß zeitweise in Köln ein. (ksta)

Um ihn herum schwirren Menschen. Bepackt mit Salatköpfen und Thunfisch pendeln sie zwischen dem Lager und der Verladefläche. Das Gebäude ist so groß wie ein Supermarkt, über 2800 verschiedene Waren sind dort gelagert. Die Häftlinge haben Auswahl. Es gibt alles von Badelatschen bis Brathähnchen. Am beliebtesten sind Kaffee und Tabak.

Ein Mann im Anzug betritt die Lagerhalle. Er hält hier und da kurz einen Plausch mit seinen Mitarbeitern. Es ist Werner Massak, der Gründer des Familienunternehmens. Für ihn sind Gefangene in erster Linie Kunden. Ihm ist es egal, was sie verbrochen haben. Es sei nicht seine Aufgabe, sich mit Schicksalen zu beschäftigen. Doch zwischen kistentragenden Mitarbeitern versetzt er sich in die Situation seiner Kunden im Gefängnis. Er weiß, wie sehr sie auf ihn angewiesen sind: „Wenn ein Kunde Raucher ist und kein Feuerzeug mehr hat, was macht er dann? Denn er kann nicht einfach zum Kollegen gehen und eins ausleihen. Die Türen sind zu! Und deswegen kann es nicht sein, dass ich ein Feuerzeug vergesse. Der Kunde hat keine Möglichkeit mehr ein Feuerzeug zu kriegen.“

Massaks Angestellte haben die Ladung für Köln auf Rollwägen geladen und schieben sie über die Laderampe in den Bauch eines Lkw. Das Deo für Ricardo Müller ist irgendwo in einer grünen Box neben Joghurts, Rätselheften und Kaugummis verstaut. Morgens um zwei Uhr brechen Massaks Fahrer auf. Sie fahren vorbei an Würzburg, Frankfurt und Bonn bis auf den Hof der JVA Köln. Dort warten weitere Mitarbeiter. Sie sollen die Waren bis an die Zellentüren bringen und dort übergeben. Beamte überprüfen die Ladung des LKWs nur stichprobenartig. Verboten ist alles, was als Waffe verwandt verwendet werden könnte, beispielsweise scharfe oder spitze Gegenstände wie Feilen oder Messer. Auch Pfeffer würden die Beamten konfiszieren. Er könnte ihnen in die Augen gestreut werden.

In einer flachen, von Halogenleuchten erhellten Halle sortieren die Helfer die Kisten nach Zellenblöcken. Etwa dreißig Häftlinge beobachten sie dabei und Justizbeamte beobachten sie. Niemand redet. Wenn einer der Helfer zur Toilette muss, begleitet ihn ein Uniformierter, um sicherzugehen, dass kein illegaler Austausch mit den Häftlingen stattfindet.

Werner Massak ist mit zur JVA gekommen. Viele Flure, Sicherheitstüren und Etagen von den Gefangenen entfernt, befinden sich die Büros der Anstaltsverwaltung. Dort trifft er den stellvertretenden Gefängnisleiter Wolfgang Schriever. Die Türen der Büros stehen offen. Ausschnitte von Telefonaten und das Geräusch vom Tippen auf Tastaturen dringen auf den Gang. Anders als unten stehen hier nicht Beamte an jeder Ecke.

Schriever meint: „Der Einkauf ist einer der Höhepunkte im Monat. Die Gefangenen sehnen ihn herbei und deshalb ist er für das Klima unter ihnen entscheidend.“ Die JVA-Leitung setzt heute nicht mehr auf Konfrontation, sondern auf Zusammenarbeit mit ihren Insassen. Sie möchte, dass der Einkauf reibungslos verläuft und die Insassen zufrieden sind.

Gegen den Schmuggel arbeiten

Im Büro des stellvertretenden Gefängnisleiters stellt der Familienunternehmer seine neueste Erfindung vor: Ein Fernseher, der komplett in Metall eingeschweißt ist. Das Problem mit herkömmlichen Fernsehern sei, erklärt Massak, dass die Häftlinge in ihnen kleine Tütchen mit Drogen verstecken würden. Dass es in der JVA Köln einen Schwarzmarkt gebe, da ist Schriever sich sicher. Er sagt: „Ich bin Realist. Weltweit gibt es kein Gefängnis, wo Sie nicht etwas Illegales kaufen können.“ Meistens wären es wohl Drogen, die manche Gefangene um jeden Preis kriegen müssten. Schriever meint: „Alles was wir tun können, ist so gut wie möglich gegen den Schmuggel zu arbeiten.“

Werner Massak weiß das und ist deshalb selbst darum bemüht, den Einkauf so sicher wie möglich zu gestalten. Dem stellvertretenden Gefängnisleiter sagt er: „Heute noch fahre ich nach Oberhausen zu einem Hundetrainer. Der soll dann zum Einkauf kommen und seine Hunde die Waren überprüfen lassen.“ Schriever nickt anerkennend. Später erzählt Massak, einer seiner Mitarbeiter sei vor einigen Monaten wohl von einem Insassen bestochen worden und wollte diesem etwas Verbotenes mitbringen. Dabei sei er aufgeflogen. „Das Gerichtsverfahren läuft“, sagt der Geschäftsmann mit trauriger Miene.

Nach dem Gespräch mit Schriever kommt Massak runter in einen Zellenblock, wo gleich die Übergabe der Einkäufe stattfindet. Wände aus dicken Gitterstäben strukturieren das Gebäude. Er spricht einen Gefangenen an, der den turnhallenartigen Boden fegt. Förmlich stellt er sich vor: „Guten Tag, ich bin Werner Massak, bei mir kaufen Sie Ihre Waren ein. Sind sie zufrieden?“ Der Insasse reagiert nervös, schaut kurz nach rechts und links, gibt dem 58-jährigen aber die Hand. „Ja ich bin zufrieden. Vorher war ich in Neubrandenburg, da war das nicht so gut.“ Nach dem kurzen Gespräch geht Werner Massak weiter. Er meint: „Wenn der Kunde zufrieden ist, ist die Anstalt zufrieden. Und dann geht die Mundpropaganda über die Gefangenen weiter und wir bekommen die nächste Anstalt.“ 1999 belieferte Massak die erste JVA, heute bedient er 86 Gefängnisse deutschlandweit.

Alle 14 Tage 210 Euro zum Einkaufen

Nun beginnt die Übergabe. Die Einkäufe liegen in grünen Kisten bereit. Die Codes verraten Vera Bolt, einer Angestellten Massaks, welche Kiste zu welcher Zelle gehört. Sie fordert den Beamten, der ihr zur Seite steht, auf, eine Zellentür zu öffnen. Lautes metallenes Knacken. Zwei Insassen liegen in ihren Betten und sind überrascht. Verschlafen steht einer auf und kommt zur Tür. Vor Bolt offenbart sich die gesamte Privatsphäre der Häftlinge. Alles was sie gerade besitzen, ist auf acht Quadratmetern ausgebreitet: Zeitschriften, Unterwäsche, Zigaretten.

Gerade will der Häftling die Empfangsbescheinigung unterschreiben, um seine Bestellung zu erhalten, da gibt es ein Problem: Er hatte ein Feuerzeug und ein Zitronenteepulver bestellt. Zusammen macht das 127 Cent. Der Häftling besitzt aber nur ein Guthaben von 125 Cent – nicht genug. „Es sind doch nur zwei Cent, können Sie da nicht eine Ausnahme machen?“, fragt er. „Nein, eine Ausnahme können wir da nicht machen, sonst wollen das ja alle“, sagt Vera Bolt. Der Häftling nimmt nur das Zitronenteepulver. Die Übergabe dauert zwei Minuten, dann schließt der Beamte die schwere Metalltür der Zelle wieder.

In Deutschland haben Häftlinge in Untersuchungshaft eine Obergrenze von 210 Euro zum Einkaufen alle 14 Tage – und sie dürfen Geld von außen bekommen. Insassen im regulären Vollzug, die also verurteilt wurden, dürfen hingegen nur einmal im Monat für maximal 120 Euro einkaufen und dürfen dafür kein Geld von außen verwenden.

Geldscheine und Münzen in den Händen halten sie ohnehin nicht. Nur durch Jobs im Gefängnis können sie sich Einkaufsguthaben verdienen. Über Päckchen von draußen oder Urlaub, den manche Gefangene ein paar Tage im Jahr haben, kommen die Häftlinge nur sehr bedingt an Waren. Es gibt strenge Regeln.

„Das ist für mich Freiheit“

In der JVA steht Vera Bolt Räubern, Sexualstraftätern und anderen Verbrechern gegenüber. Die Anonymität macht ihre Arbeit erträglicher, auch sie kennt keine Namen. „Wenn ich von jedem hier die Geschichte wüsste, dann würde ich die Arbeit nicht wollen. Dann würde ich etwas anderes machen“, so die Mittvierzigerin. Doch eigentlich sei das Klima bei der Arbeit gut, findet sie.

Während sie den Inhalt einer grünen Box überprüft, bemerkt sie nicht, wie der Insasse schon die Empfangsbestätigung unterschreibt. Beim Weitergehen ruft sie: „Der junge Mann hier will mich an der Nase rumführen. Sie müssen die Lieferbestätigung noch unterschreiben.“ Der Häftling antwortet: „Das habe ich doch schon, junge Frau“. Ein Missverständnis. Beide lachen, aber ein richtiges Gespräch führt Bolt mit keinem ihrer Kunden.

Sie erreicht die Zellentür von Riccardo Müller und gibt ihm seine grüne Kiste. Darin sind eine Packung Sahnehering, zwei Päckchen Zigaretten und ein Deo zum Sprühen. „Der Geruch Deo, das ist für mich Freiheit“, sagt er. In einem Monat kommt die Freiheit wieder an seiner Zellentür klopfen.

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