Keith Jarretts „The Köln Concert“Musikgeschichte made in Köln

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Köln – Er war auf dem Weg ins Hotel. Und wäre wohl nicht wiedergekommen. Zwei Tage fast ohne Schlaf, angereist von Lausanne im Auto, ein schreckliches Abendessen. Und erst der Flügel: verzogen, verstimmt, viel zu klein, mit gerissenen Saiten und klemmenden Tasten. Keith Jarrett und Köln – das sah nach frühem Ende aus statt nach Musikgeschichte. Niemand hätte es dem 29 Jahre alten Star-Pianisten übel genommen. Doch weil Legenden anders gehen, setzte sich Jarrett kurz vor Mitternacht am 24. Januar 1975 hinter das Klavier auf der Bühne der Oper am Offenbachplatz.

Dass er überhaupt in Köln spielte, ist einer damals gerade 18 Jahre alt gewordenen Schülerin zu verdanken. Vera Brandes hatte das Konzert als fünftes ihrer Reihe „New Jazz in Cologne“ veranstaltet, das für sie einen tiefen Einschnitt in ihr Leben bedeuten sollte – und für Millionen Menschen eine erste Begegnung mit dem Jazz. 40 Jahre später steht „The Köln Concert“, der Mitschnitt des Abends, in fast vier Millionen Plattenregalen auf der ganzen Welt.

Wir treffen Vera Brandes im Belgischen Viertel, wo sie seit langem wohnt, und erleben gleich eine Enttäuschung: Die Hoffnung, Fotos von damals sehen zu können, in alten Unterlagen stöbern zu können, zerplatzt. „Vor vielen Jahren kam einer vom Stadtarchiv und hat mir alle Unterlagen abgeluchst – und die sind natürlich nach dem Einsturz des Archivs nicht mehr da. Der Originalvertrag, das Plakat, die Ankündigungen, die Eintrittskarten – alles hab’ ich denen gegeben“, erzählt Brandes. Wenn da Wehmut mitschwingen sollte, lässt sie sich das nicht anmerken.

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Um so aufgeregter wird sie, als sie die Konzertkritik aus dem „Stadt-Anzeiger“-Archiv liest, die wir ihr mitgebracht haben „Mit reichlicher Verspätung schlurft er in Blue Jeans und schwarzem Hemd auf die Bühne, kümmert sich nicht die Spur um den Begrüßungsbeifall, legt vielmehr seine Armbanduhr provozierend deutlich ins Klavier, wartet auf absolute Stille und beginnt.“ Brandes liest fasziniert weiter, kommt zur Schilderung der Pause. „Die Veranstalterin erschien, verkündete, der Meister bestehe auf einer erneuten Stimmung des Klaviers.“ – „Das ist nicht zu fassen, das hatte ich völlig ausgeblendet.“

Vera Brandes hatte schon in ganz jungen Jahren einen Draht in die Jazz-Szene, weil ihr Vater, ein begeisterter Schachspieler, mitunter bei Gigi Campi, dem Jazz-Enthusiasten, in der Hohe Straße seine Gegenspieler fand. Und wer bei Campi einen Eisbecher „Primavera“ löffelte, geriet automatisch in die Jazz-Szene. Und dann war da noch Manfred Miller, später Jazz- und Popredakteur bei Radio Bremen, der einen Draht in Brandes’ Familie hatte. Der schrieb damals für Campi die Programmhefte und versorgte Brandes mit Schallplatten, die ihm zugeschickt worden waren. „Ich hatte dadurch eine unfassbare Plattensammlung, das war ein Geschenk des Himmels.“ 1972 durfte sie, das erlaubte ihre Mutter, mit einer Freundin und Miller nach Berlin zu den Jazztagen fahren – „und ich hab’ Gott und die Welt kennengelernt.“

Dazu gehörte auch Manfred Eicher, der damalige Produzent und Tour-Manager von Keith Jarrett, den Brandes im Dezember 1974 in Hamburg traf. Der wiederum hatte „von dem genialen Bösendorfer-Flügel“ in der Kölner VHS gehört und wollte, dass Jarrett darauf spielt. „Das war der Anfang des Dramas“, erinnert sich Brandes. Ich hab’ in der VHS angerufen und gefragt: Haben Sie an dem Abend ein Konzert? Kann ich den Bösendorfer mieten oder ausleihen?“ „Nicht nötig, Frau Brandes“. Die Stadt Köln hatte gerade erst ein Schwesterinstrument für die Oper gekauft. Ein Anruf beim Verwaltungschef der Oper, Herrn Breuer, schon hatte sie die Zusage: „Kein Problem, wir stellen Ihnen den Flügel auf die Vorderbühne.“

Doch am Tag des Konzerts erlebte sie eine Überraschung. „Auf dem, was da stand, stand zwar Bösendorfer drauf, aber das war aus dem hinterletzten Einsingzimmer, ein mit Sicherheit damals schon 25 Jahre nicht gespielter Flügel, die oberen Oktaven konntest du nicht spielen, die schwarzen Tasten waren verklemmt, die Pedale funktionierten nicht – fünf Stunden hat der Stimmer daran gearbeitet.“ Dieser Mann, so sollte es Brandes später sehen, „war der eigentliche Star des Abends“. Jarrett und Eicher standen also am Nachmittag auf der Bühne „und schauten sich das Ding an“. Jarrett ging dreimal drumherum, nach einer langen Pause sagte Eicher: „Wenn du nicht ein besseres Klavier auf die Bühne stellst, dann kannst du das Konzert heute Abend vergessen.““ Für die junge Konzertveranstalterin die reinste Horror-Vorstellung: „1400 Leute kommen, du musst denen das Geld an der Abendkasse zurückgeben. Das ist aber nicht hier, das ist auf irgendwelchen Konten, du kannst also gleich die Polizei bestellen.“

Kurz blitzte der Gedanke auf, den Flügel aus der VHS zu erbitten. Die Antwort: „Wenn Sie nicht zufällig 45000 Mark irgendwo rumliegen haben, die Sie nicht mehr brauchen, dann würde ich das mit dem Transport lassen. Bei Regen mit dem Instrument über den Neumarkt – dann kann da nicht nur heute Abend keiner mehr drauf spielen, dann kann nie mehr einer drauf spielen.“ Der Himmel drohte über der 18-Jährigen zusammenzustürzen.

Vera Brandes ist wieder mitten im Geschehen, als sie sich temperamentvoll erinnert, was dann geschah: „Dann sah ich aus dem Fenster, dass mein Bruder mit Jarrett aus dem Haus kam und ihn ins Auto verfrachten wollte. Da bin ich die Treppe runtergeflogen, hab’ die Autotür aufgerissen und hab’ ihn in meinem damals radebrechenden Englisch angefleht– wenn er nicht spielen würde, wäre das für uns beide eine Katastrophe. Wir guckten uns an wie zwei hypnotisierte Karnickel, keiner wagte auch nur mit den Wimpern zu klimpern, und nach einer endlosen Pause sagte er: »Okay, ich spiele. Aber vergiss nicht, ich mache das nur für dich.«“ Und die Geschichte nahm ihren Lauf.

Im Nachhinein, meint Vera Brandes, sei beim Konzert vor 40 Jahren schon klar gewesen, dass das ein ganz besonderer Moment ist. „Das war offensichtlich, als Jarrett auf die Bühne kam und die ersten Sekunden spielte. Du hättest nen Kubus aus der Luft in der Oper raussägen können, das war so dicht, so unfassbar dicht.“

Gab es irgendwann noch einmal eine Gelegenheit, über das Erlebte zu reden? „Nein, niemals, niemals, niemals. Ich habe ihn noch einmal in Münster gesehen und ihn damals vom Auftritt ins Hotel gefahren. Ohne dass wir über das Kölner Konzert auch nur ein Wort geredet hätten.“

In all den veröffentlichten Fakten und Anekdoten über das Konzert hört die Geschichte hier auf. Welch tiefen Einschnitt in das Leben von Vera Brandes dieses Konzert bedeutet, wird aber erst richtig deutlich, als sie weiter erzählt. Es ist keine angenehme Erinnerung, wie man vermuten könnte; denn eigentlich stellt man sich ja vor, dass ein solches Erlebnis, ein solcher Erfolg ausschließlich positive Spuren hinterlässt. Das ist aber hier nur zum Teil so.

Es schwingt Bitterkeit mit, als Brandes die Geschichte zu Ende erzählt. „Mein Name wurde auf dem Plattencover nicht erwähnt. Das hatte einen guten Grund, weil ich laut Vertrag und deutschem Urheberrecht an den Einnahmen der Platte hätte beteiligt werden müssen. Ich hab’ irgendwann dann ein Interview gelesen, das Eicher dem Rolling Stone in England gegeben hat. Darin behauptet er, er persönlich hätte den Flügel ausgesucht, auf dem Jarrett gespielt hat. Da hab’ ich gedacht, dafür, dass du mir dermaßen die Hölle heiß gemacht hast an dem Tag und dann sowas behauptest, dass ist ja irgendwie die Höhe. Da war ich ein bisschen sauer.“ Daraus resultierte ein Streit, den Brandes als existenzbedrohend in Erinnerung hat – sie hatte zu diesem Zeitpunkt ihr eigenes Plattenlabel VeraBra gegründet und sagt im Nachhinein: „Das musst du als junger Mensch erst mal wegstecken, das war nicht so easy. Ich hab’ nie einen Pfennig gesehen.“

Hat sie denn jetzt mit dieser unerquicklichen Episode abgeschlossen? Brandes: „Im Juni habe ich mich zum ersten Mal überwinden können, ein Ticket für ein Konzert von Jarrett zu kaufen. Er spielte ein Solokonzert in Toronto und ich habe mir das angehört. Es hat 40 Jahre gedauert, bis ich das überhaupt konnte“, resümiert Brandes. „Ich war immer diejenige, die die Dinge gemacht hat, ich war aber auch immer diejenige, die man vergessen hat wenn es darum ging, die Früchte zu teilen. Das ist mein ganzes Leben lang so gewesen. Dass ich das innerlich geschafft habe, mir dieses Konzert anzuschauen, war für mich wie eine Wiedergeburt. Als er anfing zu spielen hatte ich ganz tief das Gefühl dass er weiß, dass ich da bin. Er spielte etwas, was mir so unglaublich bekannt vorkam. Als wollte er sagen: Danke.“

Und wann hat die Frau, die die Idee zu diesem historischen Ereignis hatte und die diese Idee dann auch realisierte, das „Köln Concert“ zuletzt aufgelegt? „Soll ich dir sagen, was wirklich das absolut Faszinierende ist? Ich brauch’ mir das selber nie aufzulegen – es kommt mir so oft entgegen, an den entlegensten Ecken der Welt. Ich komm’ in einen Raum, ich spitze die Ohren – es begleitet mich.“

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