Trauerredner statt PfarrerImmer mehr Kölner lassen sich weltlich bestatten

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Simon Solde Trauerredner

Trauerredner Simon Solde, hier auf dem Melatenfriedhof, sieht sich als weltlicher Seelsorger. 

  • Trauerredner wie der Kölner Simon Solde haben immer mehr Aufträge.
  • Bei fast der Hälfte der Bestattungen steht kein Pfarrer mehr am Grab.
  • Muffins, Kölsch und Erbsensuppe am Grab: der Individualität sind keine Grenzen gesetzt.

Köln – An seine allererste Trauerrede erinnert Simon Solde sich als ob es gestern war. 22 Jahre war er alt, damals Bestatter in der Ausbildung, als ein Elternpaar in das Bestattungsinstitut kam. Sie hatten gerade ihre Tochter verloren, die sich mit 24 Jahren das Leben genommen hatte. Als die Eltern den jungen Mann sahen, fragten sie spontan ihn, den Auszubildenden, ob er nicht die Trauerrede halten könne.

„Sie fanden es eine schöne Vorstellung, dass jemand redet, der im Alter ihrer Tochter war.“ Eine riesige Bürde für den jungen Mann. Viele Stunden hörte Solde den Eltern und der Schwester zu. Solde ließ das Bild der jungen Frau vor sich erstehen mit all dem, was ihre 24 Jahre Leben ausgemacht hatten. Lange feilte er an dieser Ansprache, die der Tochter und Schwester gerecht werden sollte. Worte, die der tiefen Trauer Raum geben und trotzdem das Leben dieses Menschen feiern sollten. Nach der Trauerfeier lag die Mutter minutenlang in seinen Armen. „Ich habe damals gespürt, was für ein erfüllender, zutiefst sinnvoller Beruf das ist.“

Erlebnisse wie diese haben den heute 30-jährigen Kölner bewogen, sich nach seiner Bestatterausbildung als Trauerredner selbstständig zu machen. Ein Beruf, der zunehmend gefragt ist. Nicht erst, seit Anke Engelke als Trauerrednerin in der Netflix-Serie „Das letzte Wort“ die Bestattungsbranche und das konservative Beerdigungsunternehmen Borowski aufmischt mit unkonventionellen Trauerfeiern mit Tanz und Brassband.

Mehr Kreativität als bei kirchlichen Bestattungen

„Ich glaube, dass jedes Leben und jeder Tod eine Geschichte haben, die es lohnt, erzählt zu werden. Wir wollen Geschichten erzählen und Feste feiern“, sagt Engelke alias Karla Fazius in der Serie.

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Anke Engelke hat als Trauerrednerin in der Netflix-Serie „Das letzte Wort“ den Beruf ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

„Natürlich ist das alles überzeichnet. Aber doch im Kern sehr gut beobachtet“, sagt Solde über die Serie, die den Beruf des Trauerredners plötzlich ins öffentliche Bewusstsein rückte.

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Trauerfeier und Bestattung mit Trauerrednern – das ist eine sehr persönliche Art der Beerdigung. Darin sieht Bestatter und Trauerredner Brian Müschenborn, Vorsitzender des Kölner Bestatterverbandes, auch einen Grund für die stetig steigende Nachfrage. „Die Individualität wird oft mehr berücksichtigt als im kirchlichen Zusammenhang. Da ist ganz viel kreative Gestaltung durch die Angehörigen möglich. Im Grunde sind wir quasi Ritualdesigner.“

Nicht jeder wird wie in der Netflix-Serie mit Brass-Band zum Grab begleitet. Aber die Beerdigung etwa des Wirts von „Mannis Rästorang“ auf dem Melatenfriedhof kam dem schon nahe: mit einer Bierbude, die am Grab aufgebaut wurde und mit Erbsensuppe, die die Trauernden gemeinsam im Gedenken an ihn aßen.

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Als besonders bewegend hat Müschenborn die Trauerfeier und Bestattung eines kleinen Mädchens auf Melaten in Erinnerung. Am Grab gab es auf Wunsch der Eltern ein Picknick mit Muffins, Luftballons stiegen in den Himmel. „Die Kleine hätte so gerne noch ihren Geburtstag erlebt, und alle gemeinsam haben ihn im Gedenken an sie gefeiert. Den Eltern hat das in ihrer Trauer gut getan.“ Solcherlei persönliche Gestaltungen lockerten die Trauergesellschaft oft wohltuend auf, hat Solde beobachtet und erinnert sich an die Trauerfeier im Wohnzimmer einer Verstorbenen, die einer Art Familienfeier ähnelte, mit anschließendem Buffet in der Küche.

Trend geht in Köln zur weltlichen Feier

Selbst im katholisch geprägten Köln werden inzwischen mehr als 40 Prozent der Verstorbenen mit einer weltlichen Feier verabschiedet und durch einen Trauerredner gewürdigt. Bundesweit steht bei mehr als der Hälfte der Beerdigungen kein Pfarrer mehr am Grab, sondern ein Trauerredner. Tendenz deutlich steigend. Laut Müschenborn wächst auch die Zahl der Menschen, die noch Mitglied der Kirche sind, und dennoch diese Form wählen.

Warum verliert die Kirche bei diesem wichtigen Ritual am Ende des Lebens an Renommee? „Viele wollen die Bestattung lieber sehr persönlich gestalten und einfach mehr mitbestimmen“, hat Müschenborn beobachtet, der selber katholischer Theologe ist. „Oft haben die Menschen, die zu mir kommen, auch schon kirchliche Beerdigungen erlebt, die Negativerlebnisse waren“, ergänzt Solde. Etwa bei Pfarrern, die nicht mehr die Kapazität hätten, sich wirklich persönlich mit der verstorbenen Person zu befassen. „Die junge Menschen genauso beerdigen wie 90-Jährige.“ Oder die für die Wahrnehmung der Angehörigen zu sehr den vermeintlichen Trost durch den Auferstehungsglauben in den Mittelpunkt stellten.

Viele wollten keine vorgefertigten Antworten. „Sie wollen, dass das Klagen und Fragen Raum hat“, sagt Solde. Genauso wie sie möchten, dass der Verstorbene nicht glatt und verklärend dargestellt wird. „Wenn man nach dem Tod eines Menschen mehrere Stunden mit den nahen Angehörigen zusammensitzt, dann sind diese in dieser emotionalen Ausnahmesituation oft sehr ehrlich und offen. Man erfährt sehr viel über den Verstorbenen“, erzählt Müschenborn. Da komme nicht selten alles auf den Tisch, ungeschönter als vielleicht bei einem Pfarrer, wo viele versuchen, den Schein zu wahren.

Die Kunst der Trauerrede ist der Balanceakt

Da gebe es die Kinder, die erzählen, wie sie unter dem cholerischen Vater gelitten haben. Oder Ehefrauen, die die Kränkung durch das Fremdgehen des verstorbenen Mannes thematisieren. Oder wie letztens bei Trauerredner Solde die Frau, die nach einem exzessiven Leben mit Anfang 50 starb. Er erfuhr von den Angehörigen, dass sie ein schwieriger, sehr starker Charakter war – eine zerrissene Seele, geprägt durch frühe Vergewaltigungserfahrungen. Die Kunst sei es, in der Trauerrede den liebevollen Blick in den Mittelpunkt zu stellen, aber auch die Brüche im Leben des Verstorbenen zu integrieren. Und immer so vage zu bleiben, dass Intimität und Würde gewahrt bleiben und nur die engsten Angehörigen verstehen, was mit der einen oder anderen Andeutung gemeint ist. Gleichzeitig geht es darum, den Menschen in seiner Einzigartigkeit darzustellen, Weinen und auch Lachen Raum zu geben – dieser Balanceakt ist die Kunst der Trauerrede.

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Solde, der mit 16 Jahren sein Schulpraktikum beim Dorfbestatter in seinem Heimatort Frechen gemacht hat, versteht sich durchaus als Seelsorger. „Der Mensch macht doch den Seelsorger aus, nicht ein kirchliches Amt.“ In seinem Beruf als Trauerredner versuche er, den Menschen zu helfen, einfach weil er herausgefunden hat, dass das seine Stärke ist: einfühlsam zuzuhören, die Angehörigen an die Hand und ihnen die Sorgen vor dem Tag des Abschieds zu nehmen und aus all dem Gehörten ein stimmiges Bild des Menschen zu zeichnen, in dem sich derjenige bestenfalls wiedergefunden hätte. Wenn dann die Tochter der Verstorbenen sagt, „das hätte meiner Mutter gefallen“, ist das für ihn eine Bestärkung: „Ich habe den Ehrgeiz, es wirklich gut zu machen.“

„Eine Beerdigung ist kein Sakrament“

Dass Trauerredner auch für christlich geprägte Menschen mehr und mehr zur Alternative zur kirchlichen Trauerfeier werden, hat auch damit zu tun, dass sie auf Wunsch teilweise das gleiche anbieten. Solde macht explizit auch christlich-religiöse Trauerfeiern mit allen gängigen Gesängen und Ritualen. „Eine Beerdigung ist kein Sakrament. Sie darf nicht nur von einem Priester, sondern von jedem getauften Christen ausgeführt werden. Ich bin getaufter Christ.“ Ihm sei es eine Ehre, die Zeremonie etwa für aus der Kirche Ausgetretene anzubieten.

Aber auch bei den rein weltlichen Feiern gibt es seiner Erfahrung nach trotz aller Entfremdung von der Kirche eine große Offenheit für religiöse Elemente. „Das Vater unser gehört für sehr viele dazu. Und wenn ich frage, ob bei der Feier ein Gebet für den Verstorbenen gesprochen werden soll, nehmen das die Angehörigen in 60 bis 70 Prozent der Fälle an.“ Sein Kollege Müschenborn bestätigt, dass „die wenigsten sagen, bleiben Sie mir weg mit dem christlichen Gedöns. Fast alle bejahen es, dass man in der Trauerfeier eine einladende und nicht vereinnahmende Einladung zum Gebet ausspricht“. 

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