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„Ein Akt der Notwehr“Immer mehr Lehrer flüchten vor Stress und Überlastung in Teilzeit

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ARCHIV - 17.08.2016, Niedersachsen, Hannover: Eine junge Lehrerin schreibt an einer Schultafel.

Eine junge Lehrerin schreibt an einer Schultafel.

Mehr und mehr Lehrerinnen und Lehrer verringern ihre Arbeitszeit, weil sie sich überfordert fühlen. Damit steigt erneut der Lehrermangel.

Manchmal ploppen die Aufgaben beinahe zeitgleich auf: 30 Mails schwappen in kurzer Zeit ins Postfach, die Bezirksregierung verlangt Auskünfte, die Sekretärin steht mit einem Anliegen in der Tür und dann haben sich noch zwei Kollegen krankgemeldet, für die Ersatz gesucht werden muss. „Ich mag meinen Job sehr gerne, aber Überlastung ist ein großes Thema“, sagt der Kölner Schulleiter Andreas Schubert (Name geändert).

Der Stress trifft dabei nicht nur den Direktor, sondern sei im Kollegium weit verbreitet. Unterricht in meist großen Klassen, viele Korrekturen, Pausenaufsicht, Elterngespräche, Teamsitzungen und vieles mehr müssen die Lehrkräfte an Schuberts Schule bewältigen. Es sei schon vorgekommen, dass eine Lehrerin in seinem Büro saß und weinte, weil sie nicht mehr konnte. Der Krankenstand liege bei sieben bis acht Prozent und ähnlich viele Lehrenden arbeiteten in Teilzeit, weil sie schlicht überfordert seien, sagt Schubert.

Teilzeit als Flucht

Teilzeit als Flucht vor Stress. Nach den neuesten Zahlen des Landesstatistikamtes IT NRW ist die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer, die in Teilzeit arbeiten, weiter gestiegen. Von den 10.980 Lehrkräften, die in NRW in öffentlichen allgemeinbildenden Schulen unterrichten, arbeiten 4965 in Teilzeit – eine Quote von 43,4 Prozent. Vor einem Jahr waren es noch 42,9, vor zehn Jahren 36,4 Prozent. Nicht alle flüchten vor der Überforderung, aber viele – und das ist auch ein Politikum. Denn mit der steigenden Rate an Teilzeitkräften, nehme auch der Lehrermangel in Schulen zu, sagt Sabine Mistler, Vorsitzende des Philologenverbands NRW. „Ein Teufelskreis. Der Trend gibt Anlass zu akuter Sorge. Entlastungen sind dringend erforderlich“

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Besonders viele Grundschullehrerinnen und -lehrer wechseln in Teilzeit. Während es in Kölner Gymnasien 42 Prozent, in Realschulen 41 Prozent und in Hauptschulen nur 26 Prozent sind, reduzieren in Grundschulen 51 Prozent der Lehrenden ihre Arbeitszeit. Insgesamt befindet sich Köln auf dem Niveau des Bundes (43 Prozent) und dem von NRW (42 Prozent). Der Teilzeit-Anteil der 8025 weiblichen Lehrkräfte (50 Prozent) liegt signifikant über dem der 2955 männlichen Kollegen (26 Prozent).

Auch Mistler sagt, dass sich viele Lehrende überfordert fühlen. „In Teilzeit zu gehen, ist ein Akt der Notwehr“, so Mistler. „Viele Lehrkräfte sehen sich gezwungen, ihre Stunden zu reduzieren, um gesundheitlichen und psychischen Belastungen zu begegnen und nicht zuletzt, um ihren Ansprüchen an einen guten Unterricht gerecht zu werden.“

Gesundheitliche Belastung

Das sieht auch Ayse Celik, die Vorsitzende der Gewerkschaft GEW NRW, ganz ähnlich. „Der wachsende Anteil von Teilzeitkräften ist kein individuelles Problem, sondern ein Symptom für strukturelle Defizite im Bildungssystem.“ Teilzeit sei für viele Lehrende ein „notwendiger Schutzmechanismus, um den enormen Belastungen des Berufsalltags standzuhalten, den eigenen Ansprüchen an die Qualität des Unterrichts gerecht werden zu können und dabei langfristig gesund im Schuldienst zu bleiben“.

Viele Lehrkräfte müssten wöchentlich mehr als 50 Stunden arbeiten, sagt Mistler. Große Klassen, viel Bürokratie, viele Vertretungsstunden und nichtpädagogische Aufgaben sowie schlechte Ausstattung seien weitere Gründe, weshalb Lehrkräfte weniger arbeiten wollten. Zudem sei auch die Schülerschaft heterogener geworden, viele Kinder und Jugendliche hätten Probleme, sich über längere Zeit im Unterricht zu konzentrieren.

Der eigentliche Skandal ist, dass viele Lehrkräfte die Notbremse ziehen müssen.
Ayse Celik, Gewerksschaft Erziehung und Wissenschaft

Hinzu kämen Elterngespräche, Verwaltungsaufgaben und hohe gesellschaftliche Erwartungen an das, was Schule zusätzlich leisten soll - von Medienbildung über Inklusion bis hin zu Demokratieerziehung - ohne entsprechende zusätzliche Ressourcen, ergänzt Celik. „Diese Aufgabenfülle wächst seit Jahren, ohne dass klare Priorisierungen vorgenommen beziehungsweise entsprechende Entlastungen geschaffen werden.“ Und: „Der eigentliche Skandal ist, dass viele Lehrkräfte die  Notbremse ziehen müssen.“

Kein Wunder also, dass jede zweite Lehrkraft ernsthaft darüber nachgedacht hat, den Beruf aufzugeben, wie eine Umfrage des Philologenverbandes NRW unter mehr als 3000 Lehrkräften von Gymnasien und Gesamtschulen ergab.

Mit Sorge sieht Mistler restriktivere Prüfungen von Teilzeitanträgen, bei denen keine familiären Gründe vorlägen. „Das wird das Problem nicht lösen, sondern nur verstärken. Wir befürchten, dass noch mehr Lehrkräfte über ein Ausscheiden nachdenken, weil der Beruf zunehmend unattraktiv wird.“ Die Folge seien Mehrbelastung für die Lehrkräfte, die blieben. Wenn man nachhaltig gegen den Lehrkräften Mangel wirken wolle, müsse man stattdessen den Beruf attraktiver machen – durch gute Arbeitsbedingungen, echte Entlastung und Wertschätzung, so Celik.