Schulleiterin Christiana Hartmann spricht im Interview über Herausforderungen und Lösungen für die Probleme Schüler aus sozialen Brennpunkten.
Soziale BrennpunkteKölner Grundschulleiterin: „Wir verlieren viel zu viele Kinder“

Schüler kommen am Morgen in einer Grundschule zum Unterricht.
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Wenn die neuen Zahlen kommen, schrecken wieder alle auf: In Grundschulen in sozialen Brennpunkten wiederholen nicht selten bis zu einem Drittel der Kinder die erste Klasse – weil sie ohne ausreichend Deutschkenntnisse und ohne so genannte Vorläuferfähigkeiten eingeschult werden. Tendenz steigend. Nur ändern tut sich nichts. Was müsste passieren?
Christiane Hartmann: Wir müssen den Fokus viel mehr auf die frühe Kindheit legen und viel mehr Ressourcen in Kita und Grundschule setzen. Je früher wir mit den Hilfen ansetzen, desto früher wirken sie und desto kürzer sind sie nötig. Das Wichtigste wäre endlich eine Kita-Pflicht und dazu ein Startchancenprogramm nicht nur für die Grundschulen, sondern auch für die Kitas. Eine hoch qualifizierte frühe Bildung der Schlüssel, die derzeit bedenkliche Situation zu verbessern. Erfolgreiche Länder wie Japan und Estland machen das längst vor: Je jünger die Kinder dort sind, desto mehr investiert der Staat dort pro Kopf.
Derzeit hat ein Drittel der Erstklässler mit Migrationshintergrund in NRW vor der Einschulung keine Kita besucht. Warum wäre das so wichtig?
Zum einen wegen des gesellschaftlich so wichtigen sozialen Lernens: Ich lerne dort, mich in einer Gemeinschaft zurechtzufinden, Konflikte auszuhandeln und meine Bedürfnisse zurückzustellen. Gleichzeitig lege ich auch kognitiv hier die Basis für alles weitere Lernen: Wenn ich mit Gegenständen Muster lege, bereite ich mathematische Fähigkeiten wie Regelerkennung vor, weil unser Gehirn auf Musterbildung ausgelegt ist. Kindern, die nicht in der Kita sind und stattdessen zuhause stundenlang vor Medien platziert werden, fehlt das Selbst-Begreifen, das Welt-Wahrnehmen, das Muster-Erkennen und Bauen.
Das heißt, wenn ich als Kind in der Kita keine Förmchen gestapelt habe, kann ich später auch nicht drei und sieben addieren?
Genau. Genauso ist es beim Lesen: Da sollen Kinder Lesetechniken erwerben und wissen gar nicht, warum sie eigentlich lesen sollen, weil sie noch nie mit einem Buch – auch nicht mit einem Bilderbuch – zu tun hatten. Wenn ich nicht weiß, dass es Geschichten gibt, die mir Welten öffnen, bin auch nicht neugierig auf die Welt der Schrift. Wir lesen hier im 1. Schuljahr einigen unserer Kinder das erste Mal in ihrem Leben Geschichten vor. Wenn sie eine Geschichte aufschreiben sollen, haben sie gar keine Idee, weil sie die Welt der Phantasie nicht kennen. Wir müssen sie erst mal neugierig machen, dass da etwas Wichtiges steht, das man entziffern sollte, weil es spannend ist. Und das geht bei den Wörtern weiter: Wenn ich bei den Buchstaben „A wie Apfel“ lerne, aber das Wort Apfel nicht kenne, kann ich nicht lesen lernen. Das heißt, bei Kindern ohne Kita ist das Feld fürs Lernen noch gar nicht vorbereitet. Das müssen wir dann hier erst mal anlegen. Und dann wundern sich Menschen über die hohe Zahl der Wiederholer. Es ist die einzige Chance, die wir diesen Kindern geben können: mehr Zeit zum Nachholen dieser Vorerfahrungen und Welterkundungen.

Christiane Hartmann leitet die James-Krüss-Grundschule im Ostheim, in der weit überwiegende Teil der Kinder Migrationshintergrund haben. Die Schule hat die höchste Sozialindex-Stufe 9. Ihre Schule nimmt am Startchancen-Programm teil.
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Aber auch wenn ein Kind in die Kita geht, ist das Problem nicht gelöst, wenn in den Kitas wegen Fachkräftemangels die Betreuungszeiten gekürzt werden oder – wie Grundschulleitungen mir berichten – bisweilen keine einzige Erzieherin der Einrichtung fehlerfrei Deutsch sprechen kann und es dann eben kein Sprachvorbild gibt…
Die Situation der Kitas ist katastrophal. Am meisten leiden darunter eben die ohnehin benachteiligten Kinder. Wenn es mal wieder nur Notbetreuung gibt, werden Eltern gebeten, die Kinder zuhause zu halten. Genutzt wird die Notbetreuung dann von Eltern, die berufstätig sind. Die anderen lassen ihre Kinder zuhause, obwohl genau diese Kinder die Kita so nötig bräuchten. Aus meiner Sicht müssten gerade diese Kitas, wo viele Kinder kein Deutsch können, einen Personalpuffer haben.
Wie könnte man denn mehr Fachkräfte gewinnen?
Der Weg, die Kitas besser auszustatten ist, das Personal besser auszubilden. Am besten würde man die Erzieherausbildung akademisieren – dann wäre die Bezahlung besser und der Beruf automatisch attraktiver. Als Nebeneffekt hätten wir eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und würden damit mehr Fachkräfte für den Arbeitsmarkt zurückgewinnen. Zudem müssten gerade in den Kitas und Grundschulen in den Brennpunkten die Qualifiziertesten und Besten arbeiten.
Das Problem mit der zu geringen Ressourcenausstattung setzt sich stattdessen in den Grundschulen fort.
Unsere Arbeit hier ist sehr erfüllend und intensiv – aber eben auch total anstrengend. Die zusätzlichen Belastungen müssen honoriert werden. Nicht mit Geld, sondern mit Entlastungsstunden. Allein schon die Beratung der Eltern nimmt an Schulen wie der unseren extrem viel mehr Zeit ein, die Eltern und Familien müssen an ganz vielen Stellen unterstützt werden. Ich erlebe immer wieder, wie tolle Lehrerinnen auf dem Zahnfleisch gehen. Das System wird über die Ressourcengrenze getrieben.
Wie sieht denn bei Ihnen so eine Klasse aus?
Wir haben Klassenstärken bis 27 Kinder. Es gibt selten mal ein Kind, das von der Schuleingangsuntersuchung ohne Auffälligkeiten zu uns kommt. Sprachliche Schwierigkeiten, Konzentration, grafomotorische Auffälligkeiten, körperliche oder geistige Auffälligkeiten: Viele Kinder haben da fünf oder sechs Kreuzchen auf dem Bogen. Es gibt in den Grundschulklassen keine Obergrenze für Kinder mit Förderbedarf. Dann habe ich durchaus mal mehr als 20 Kinder in der Klasse, deren Entwicklung nicht geradlinig verläuft und die deutlich mehr pädagogischen Einsatz brauchen. Hier bräuchte es zumindest eine Obergrenze für Kinder mit Förderbedarf oder an Schulen in herausfordernder Lage – Hamburg hat das so gemacht.
Wie sehen Sie den Einfluss des Smartphones? Schon Kita-Kinder schauen vor der Einschulung nicht selten viele Stunden täglich aufs Handy…
Wir sehen schon jetzt als einen Effekt stark wachsende Konzentrationsschwächen. Kinder im ersten Schuljahr können sich ohnehin nur ein paar Minuten konzentrieren. Die Kinder, die hier in den Klassen sitzen, haben große Schwierigkeiten, überhaupt mit dem Arbeiten anzufangen. Sie bekommen eine Aufgabe und gehen an ihren Platz, um loszulegen – aber sie kommen nicht in die Lernhaltung, ins Anfangen rein. Ein einziges Geräusch reicht, sie werden von dem kleinsten Reiz abgelenkt. Wir setzen ihnen Kopfhörer auf oder setzen sie vor eine weiße Wand – rechts und links von einer Regalwand abgeschottet.
Was beobachten Sie abgesehen von der Konzentrationsfähigkeit für Konsequenzen?
Ein anderer Effekt ist, dass sehr viele Kinder nicht mehr neugierig sind auf die Welt, sie stellen keine Fragen – einfach, weil sie zu wenig von der Welt kennengelernt haben. Sie sitzen nur überreizt vor Bildschirmen mit quietschenden Geräuschen und bewegten Bildern und können in engen Wohnungen kaum Bewegungserfahrungen machen. Da passiert keine Auseinandersetzung. Es wird nichts gefragt, nichts gesprochen, nichts im wahrsten Sinne des Wortes begriffen. Wenn ich einen Knopf drücke, ist das keine Interaktion. Interaktion ist, wenn ich mit gemeinsam einem Kind einen Turm baue oder eine Perlenkette auffädele und das mit Sprache begleite. Dann kann ein Kind merken, dass Sprache bedeutsam ist. Sie wird bedeutsam in Beziehung.
Was bräuchten Sie, um das zu kompensieren?
Wir müssten dafür sorgen, Bildungsungerechtigkeit viel entschiedener abzubauen. Wir haben ja hier an der Schule ein Familiengrundschulzentrum. Das ist der richtige Weg, die Eltern in die Schule zu holen. Aber ich hätte hier gerne noch viel mehr unter einem Dach, ein richtiges Haus des Lernens für die ganze Familie: Auch Logopädie, Physiotherapie usw. Wir haben hier Kinder mit Verhaltensstörung, die gehen über Tische und Bänke, haben geistige Entwicklungsstörungen und eigentlich Anspruch auf eine Schulbegleitung. Eltern in bildungsbürgerlichen Vierteln wissen das, sorgen für die notwendige Diagnostik und stellen frühzeitig Anträge. Ihre Kinder werden ab dem ersten Schuljahr unterstützt. Bei uns dauert es oft bis zum zweiten Halbjahr des dritten Schuljahres, ehe der Prozess von der Antragstellung der Eltern über Verwaltung und Jugendamt gelaufen und ein Schulbegleiter gefunden ist. Es ist ein strukturelles Problem, weil nur die Eltern das beantragen können. So dekliniert sich Bildungsungerechtigkeit durch alle Bereiche durch….
Was würden Sie außer der Kitapflicht strukturell sofort ändern?
Wir haben noch nicht verinnerlicht, dass die Schülerschaft immer heterogener wird. Umso wichtiger wäre längeres gemeinsames Lernen. Gerade für unsere Schülerschaft ist das sehr problematisch, dass wir – übrigens mit Österreich als einziges Land in Europa – die Kinder nach der vierten Klasse trennen. Bei uns sind die Kinder ja nicht dümmer. Sie brauchen nur mehr Unterstützung, um ihre Potenziale auszuschöpfen, weil sie vor der Schulzeit zu wenig Unterstützung im Elternhaus bekommen haben. Und das geht im langen gemeinsamen Lernen besser. Erfolgreiche Schulsysteme wie die nordischen Staaten lernen bis zur 8. oder 10. Klasse gemeinsam. Und sie stehen in allen Lerngruppen besser da als wir.
Ihre Schule ist eine Startchancenschule. Das von Bund und Ländern aufgelegte Förderprogramm unterstützt seit einem Jahr erstmals gezielt Schulen, an denen besonders viele benachteiligte Kinder lernen. Wie ist das bei Ihnen angelaufen?
Das Programm ist eine tolle Sache: Es ist auf die richtigen Ziele fokussiert und es gibt Geld, das ist die gute Nachricht. Aber wir müssen schauen, dass es uns das nicht an anderer Stelle wieder weggenommen wird. Denn: Es ist zwar ein Bund-Länder-Programm – aber NRW hat gesagt, die Kommunen müssen 30 Prozent der Kosten selber tragen. In anderen Bundesländern sind es nur 15 Prozent. Gerade für arme Kommunen ist das nicht zu leisten und sie werden gezwungen sein, viele freiwillige Leistungen zu kürzen. Da müssen wir gut aufpassen, dass wir uns da nicht in die Tasche lügen. Ich habe Sorge, dass der Schub verpufft, denn gerade die Kommunen mit besonders vielen Startchancenschulen sind besonders klamm. Die können dieses Drittel kaum stemmen.
Wie sehen Sie da die Lage speziell in Köln?
Ich sehe auf Seiten der Stadt viel guten Willen. Aber es darf eben auf keinen Fall am Geld scheitern. Und wenn ich dann lese, dass Köln den Bau eines temporären Olympiastadions mit angeschlossenem Olympischen Dorf erwägt, bekomme ich Zweifel. Wenn dann gleichzeitig an freiwilligen Leistungen gespart wird, die an unseren Schulen direkt wirken, bekomme ich die Krise. Bei solchen Prioritäten wird alles zum Lippenbekenntnis. Am Ende gibt es eben einen Unterschied zwischen Sonntagsreden und Montagsverfügungen. Warum setzen wir so eine Bewerbung nicht mal aus und sagen, das können mal andere Städte machen. Konzentrieren wir uns darauf, dass wir unsere zentralen Basis-Aufgaben gut hinbekommen. Das hat nicht nur mit einem humanistischen Menschenbild zu tun, dass wir kein Kind zurücklassen sollten. Wir verlieren viel zu viele Kinder. Wir sollten die Priorität also nicht nur auf Tourismus legen oder Olympia, sondern auf lebenswerte Bedingungen für Leute, die hier dauerhaft leben. Mit Schwerpunkt auf Bildung und Wohnen mit funktionierenden, schönen Stadtteilbibliotheken und Schwimmbädern, in denen Kinder schwimmen lernen können, damit sie nicht ertrinken.
Neben dem Thema Geld gibt es auch Kritik aus den Schulen an der überbordenden Bürokratie des Vergaberechts. Wie sehen Sie das?
Die zusätzliche Stelle aus dem Programm zu besetzen war vergleichsweise leicht. Aber bei dem Investitionsbudget stoßen wir auf die Untiefen des Vergaberechts. Um den Förderraum, den wir mit dem Geld aus dem Startchancenbudget einrichten wollen, auszustatten, musste ich für 100 Posten je mindestens zwei Vergleichsangebote einholen und vorlegen. Ein riesiger Aufwand, obwohl ich doch eigentlich eine Schule leiten soll. Woher die Zeit dafür kommen soll, kann keiner beantworten. Das muss die Stadt mit eigens zur Verfügung gestelltem Personal prüfen. Hinzu kommt dann der enorme Zeitdruck: Ich habe nur eine Frist bis Ende Juli, um dieses Geld zu verausgaben. Wenn die Stadt zeitlich hängt mit der Prüfung oder wir mit unseren Vergleichsangeboten und die Frist reißen, sind die 20.000 Euro Chancenbudget für dieses Jahr einfach weg. Das ist ein Konstruktionsfehler. Die Budgets sollten übertragbar sein.