Kölner zum Grundgesetz„Man muss nicht, wenn man unzufrieden ist, Nazi werden“

Lesezeit 5 Minuten
Annette Frier im studio dumont

Annette Frier im studio dumont

Schauspielerin Annette Frier und FDP-Politiker Gerhart Baum feierten im studio dumont den 75. Geburtstag des Grundgesetzes.

Die Würde des Menschen ist unantastbar. „Einen schöneren Satz findet man in keiner anderen Verfassung, die ich kenne“, sagt Frauke Rostalski. Die Kölner Jura-Professorin setzt damit den Akzent für eine Feier zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes, zu der der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ins studio dumont eingeladen hat.

Artikel 1, mit dem der Katalog der Grundrechte beginnt, ist nicht nur Satz von einmaliger Prägnanz, sondern auch der ins Wort gefasste Geist der deutschen Verfassung: „Das Individuum steht für die Gesellschaft im Mittelpunkt, und man gibt ihm die Möglichkeit, sich gegen den Staat zur Wehr zu setzen“, erklärt Rostalski.

Zu Beginn des Abends hat die Schauspielerin Annette Frier einen Auszug der Rede vorgetragen, die der Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani vor zehn Jahren zum 65. Geburtstag des Grundgesetzes gehalten hat. Im Bundestag rühmte auch Kermani die literarische Kraft des Textes und verband dies mit der Liebeserklärung an Deutschland als „eine Nation, die über ihre Geschichte verzweifelt, zugleich am eigenen Versagen gereift ist, die nicht mehr den Prunk benötigt und dem Fremden lieber eine Spur zu freundlich begegnet, als der Überheblichkeit zu verfallen“.

Husch Josten und Joachim Frank

Husch Josten und Joachim Frank

Zehn Jahre weiter ist für alle zu spüren, dass solche Sätze nicht in Stein gemeißelt sind, dass etwa die Haltung zu den Fremden oder auch die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen immer wieder überprüft, ausgehandelt und womöglich verteidigt werden müssen.

Als Zeitzeuge blickt der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum, 16 Jahre älter als das Grundgesetz, zurück auf dessen Geburtsstunde. Direkt habe er davon damals nichts mitbekommen – wie die allermeisten Deutschen. „Das Grundgesetz ist vom Parlamentarischen Rat ohne große Öffentlichkeit verabschiedet worden. Die Leute waren mit Alltagssorgen beschäftigt.“ Erst später, als er mit anderen Vertretern seiner Generation antrat, „dieses Land zu verändern“, da sei „das Grundgesetz als eine wunderbare Leitplanke ins Blickfeld getreten“, sagt Baum. Zusammen mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die von den Vereinten Nationen 1948 verabschiedet wurde. „Da fasst man sich an den Kopf, dass die Menschheit mal so besonnen sein konnte“.

Das Grundgesetz im politischen und gesellschaftlichen Leben umzusetzen, sei „nicht so einfach gewesen“, erzählt Baum. „Die Deutschen waren der Meinung, sie seien die eigentlichen Opfer Hitlers gewesen und wollten nicht mehr darüber reden. Wir aber wollten beweisen: Deutschland ist anders.“

Der Schutz der Demokratie, die Verteidigung von Freiheitsrechten heute durchzieht als roter Faden den nachdenklichen Teil der Geburtstagsfeier. Während Rostalski sich vergleichsweise gelassen zeigt und das Grundgesetz für standfest gegenüber – fraglos vorhandenen – antidemokratischen Bestrebungen („sogar die Klimabewegung enthält antidemokratische Strömungen, in denen die Demokratie als Defizit gesehen wird“) hält, ist Baum hochgradig alarmiert. Die Vertretung der AfD in allen Parlamenten und den gegenwärtig großen Zulauf sieht der 91-Jährige als große Gefahr. „Die Leute laufen Rattenfängern hinterher, die gar keine Problemlösungskompetenz haben.“ Er empfiehlt den demokratischen Parteien, sie müssten wieder „näher an die Leute herankommen. Das ist alles viel zu technokratisch.“

Der Abend im studio dumont war ausverkauft.

Der Abend im studio dumont war ausverkauft.

Rostalski wirbt für eine vertiefte Analyse der Gründe, aus denen insbesondere junge Menschen sich der AfD zuwenden. „Da reicht es nicht zu sagen, wie gut das Grundgesetz ist. Krisen, wirtschaftliche Nöte, eine nicht aufgearbeitete Pandemie mit unheimlichen Einschnitten in unsere Freiheiten - es ist doch kein Wunder, wenn ein großer Teil der Bevölkerung sagt, wir haben das Vertrauen in die demokratischen Parteien verloren.“

Baum hält dagegen. „Es bleibt bei mir der Zorn: Man muss nicht, wenn man unzufrieden ist, Nazi werden.“

Frier bekennt, sie habe mit Blick auf die AfD und ihr Abschneiden in den kommenden Wahlen „große Angst“. Mit ihren Mitteln versucht sie, Positivbotschaften zu senden und dabei auch Baums Appell für mehr Nähe aufzunehmen. Gemeinsam mit der Schriftstellerin Husch Josten hat Frier die Kampagne „Du und ich für Demokratie“ gestartet: In kurzen, persönlichen Videobotschaften sagen Prominente, was ihnen die Demokratie bedeutet, warum Europa wichtig ist und warum sie gerne in Deutschland leben.

Die Kampagne ist auf die sozialen Medien ausgerichtet. Dort seien „die Gegner der Demokratie deutlich besser aufgestellt“, sagt Josten. „Deshalb suchen wir Menschen mit möglichst vielen Followern, die sehr viele erreichen können.“

Frauke Rolstalski

Frauke Rolstalski

Selbst solch eine Kampagne für die Demokratie muss „wehrhaft“ sein, berichtet Josten. Es müsse zum Beispiel verhindert werden, dass Trolle die Videos der Prominenten kapern und ihnen mit Hilfe Künstlicher Intelligenz gegenteilige Aussagen unterschieben. Deswegen ist der Verein „Support Democracy“ Teil der Kampagne. Mit Hilfe von Experten sollen vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland gezielt Fake News im Netz gesucht und entlarvt werden.

In der Sache streiten

Dialog ist auch für Rostalski das Gebot der Stunde. AfD-Vertreter „im Gespräch stellen, auf schlechte Argumente eingehen und sie als solche widerlegen“ – das sei besser als zum Beispiel mit einem Parteiverbot Mauern zu errichten. „Das führt eher zu Wagenburgmentalität.“

Wenn in Umfragen so viele Deutsche wie nie zuvor bekunden, sie dürften ihre Meinung nicht frei äußern, dann „kann man das nicht einfach abtun“, warnt die Juristin. „Man sieht doch, wie schnell sich Lager bilden, und dass dann zwar innerhalb dieser Lager miteinander gesprochen wird, aber nur noch über die anderen.“ Themen würden zudem „so stark moralisch aufgeladen, dass man nicht mehr auf eine Sachebene kommt“. In der Sache streiten „wie die Kesselflicker“ (Frier) – „das würde ich mir zurückwünschen“, sagt Rostalski.

Gerhart Baum und Moderator Joachim Frank

Gerhart Baum und Moderator Joachim Frank

Dann rezitiert Frier zusammen mit den 200 Gästen einzelne Artikel des Grundgesetzes – wie der Chor in einem antiken Schauspiel: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“ – „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ – „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ – „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Sätze wie diese, gemeinsam vorgetragen von Bürgerinnen und Bürgern mit starker Stimme – das sind, wie Moderator Joachim Frank gerührt feststellt, „Gänsehaut-Momente“.

Um sie bewahren und buchstäblich mit nach Hause nehmen zu können, bekommen alle Besucherinnen und Besucher am Ende des Abends vom Verlag Reclam eine Ausgabe des Grundgesetzes geschenkt – der besten Verfassung, die Deutschland je hatte.

Nachtmodus
KStA abonnieren