Vermeintlich historischWie die Nazis die alten Häuser der Kölner Altstadt neu bauten

Lesezeit 5 Minuten
Häuser in der Altstadt

Das Häuserensemble am Fischmarkt

Köln – Schmal strecken sich die Fassaden in Richtung Groß St. Martin. Es sind fünf farbige Häuser mit spitz zulaufenden Giebeln, die der romanischen Kirche aus Rheinufer-Perspektive ein malerisches Gepräge verleihen. Das ist das gute alte Köln, denken viele Besucher bei diesem Anblick und zücken ihre Kamera. Zumal die eisernen Ziffern an der Front der beiden linken Giebelhäuser auf den ersten Blick eine 1235 ergeben könnten. Tatsächlich jedoch ist hier das Baujahr 1935 gemeint.

Das Martinsviertel erstreckt sich von der Markmannsgasse am Heumarkt bis zur Mühlengasse im Norden und vom Altermarkt bis zum Rheinufer. Enge Gassen ziehen sich durch das Quartier, in dem es Touristen und Karnevalisten in pandemiefreien Zeiten krachen lassen. Zwar ist die Altstadt viel größer, aber landläufig ist das Martinsviertel gemeint, wenn von der Altstadt die Rede ist. Gefeiert wird hier in vermeintlich historischer Kulisse, doch richtig alt ist hier kaum noch etwas – auch wenn manches Restaurant sich stolz mit der vermeintlichen Historie schmückt.

„Siegfried der Drachentöter“ aus der Nibelungensage

Beim Spaziergang über die omnipräsenten Pflastersteine bleibt Ulrich Krings, ehemaliger Kölner Stadtkonservator, an der Ecke Salzgasse/Buttermarkt stehen. Von einer Wand schaut ähnlich einer Hausmadonna ein steinerner „Siegfried der Drachentöter“ aus der Nibelungensage herab, wie sie die Nationalsozialisten einst für ihre Indoktrination missbrauchten. „Siegfried wird hier in der Tradition der Hausheiligenfigur dargestellt“, sagt der 79-jährige Kunsthistoriker: „Die Nazi-Ideologie war ja eine Religion.“

Diese düstere Religion hat das Martinsviertel geprägt wie kaum einen anderen Stadtteil. 1935 begann auf dem 1,8 Hektar großen Gelände mit seinen 2547 Einwohnern eine Sanierung, die vor allem auf die Verdrängung der dort lebenden Bevölkerung abzielte. Als Restbezirk des mittelalterlichen Handelsviertels hatte das Martinsviertel seit 1900 einen Niedergang erlebt. Gutsituierte Bewohner waren abgewandert, zurückgeblieben waren nicht selten Arme, Arbeitslose und kinderreiche Familien. Prostitution war allgegenwärtig.

„Das war ein Kneipen- und Puffviertel“, sagt Ulrich Krings. Das pralle Leben spielte sich in Jahrhunderte alter, aber sehr maroder Bausubstanz ab. Mangels Kanalisation und starker Überbelegung der Wohnungen waren auch die hygienischen Zustände katastrophal. „Bis in die 1920er Jahre hinein wurden die Nachttöpfe auf die Straße gekippt“, so Joachim Groth, Vorsitzender der Bürgergemeinschaft Altstadt.

Ziel der „sozialen Umstrukturierung“ fügte sich gut in Ideologie ein

Zwar gab es schon lange vor 1933 Pläne für eine Sanierung des Problemquartiers. Doch erst die Nazis setzten sie entschlussfreudig um. Das Ziel der „sozialen Umstrukturierung“, die durch private Gelder sowie Mittel des Reichsarbeitsministerium und der Stadt finanziert wurde, fügte sich gut in ihre Ideologie ein, die Minderheiten ausgrenzte und verfolgte. Außerdem sahen die neuen Machthaber die Chance, ihre Effizienz möglichst schnell unter Beweis zu stellen.

Hans Vogts, Kölner Stadtkonservator ab 1933, strebte eine „durchgreifende Gesundung“ des „Dirnen- und Verbrecherviertels“ an, in dem eine „Säuberung von asozialen und wertmindernden Elementen“ und eine „Neuansiedlung anständiger Volksgenossen“ zu erfolgen habe. NSDAP-Funktionär und Beigeordneter Robert Brandes sprach von einem „verschlammten Gebiet“.

Freiräume wie der Eisenmarkt oder der Ostermannplatz entstanden

Baulich blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Dem Viertel wurden gemäß damaliger Maximen für den Siedlungsbau Licht, Luft und größere Wohneinheiten verordnet. Durch Blockentkernungen entstanden Freiräume wie der Eisenmarkt oder der Ostermannplatz. Zwar blieben einige außergewöhnliche Bauten aus der Gotik oder der Renaissance stehen. Häuser aus der Gründerzeit, der Epoche des Jugendstils, aber auch aus früheren Jahrhunderten wurden jedoch abgebrochen und ersetzt. „Wenn es sich um normale kölsche Wohnhäuser etwa aus dem 18. Jahrhundert handelte, hielten sich die Architekten sehr genau an den Vor-Sanierungs-Zustand“, sagt Ulrich Krings.

Das könnte Sie auch interessieren:

An vielen Stellen jedoch kümmerten sie sich nur wenig um historische Vorbilder und kreierten laut Krings eine „Mischung aus tatsächlichen historischen Stilen Kölns und einer zeittypischen Neuerfindung“. Der Einsatz von stabilen Betondecken war hinter den vermeintlich historischen Fassaden durchaus erwünscht. Während der späteren Bombardements blieben vor allem die Gebäude aus den 1930er Jahren stehen.

Versatzstücke aus (tatsächlich) alten Abbruchhäusern eingebaut

Um den selbst erdachten Historismus authentischer wirken zu lassen, wurden Versatzstücke – sogenannte Spolien – aus (tatsächlich) alten Abbruchhäusern eingebaut. An der Lintgasse etwa finden sich Portale aus dem 17. Jahrhundert, die ursprünglich Gebäude an ganz anderer Stelle zierten. Das Staffelgiebelhaus „Zum Walfisch“ aus dem Jahr 1629 stand ursprünglich an der Tipsgasse und wurde bis in kleinste Details an der Salzgasse neu aufgebaut. Für Ulrich Krings einer der wichtigsten Bauten im Martinsviertel.

In der nationalsozialistischen Vorstellungswelt sollte das Potemkinsche Dorf an Groß St. Martin nur eine kleine historische Insel inmitten einer komplett umgestalteten Innenstadt sein. In unmittelbarer Nähe, so das städtebauliche Konzept, würde eine 68 Meter breite Ost-West-Achse mit monumentaler Randbebauung entstehen, die auf ein riesiges Parteigelände auf Deutzer Seite zuführt. Von dort aus sollte der Blick auf das alte Köln aus Dom, romanischen Kirchen und den malerischen Giebeln der Altstadt fallen. Allerdings sollte die „Alt-Köln-Enklave“ neben den neuen Protzbauten klein wirken.

Der Zweite Weltkrieg machte den Großteil der Pläne zunichte

Der Krieg machte den Großteil der gigantomanischen Pläne zunichte. Die „Gesundung“ des Martinsviertels jedoch wurde weitestgehend zu Ende geführt. 1938 wurde vermeldet, dass 33 Bordelle, „Absteigquartiere“ und „Verbrecherhäuser“ sowie 120 Dirnen „beseitigt“ worden seien. Die ursprüngliche Bevölkerung wurde gegen „einwandfreie“ Familien ausgetauscht, auch 36 neue Gewerbebetriebe, ein Postamt sowie ein Theater zogen ein. Insgesamt seien durch den Eingriff 140 Wohnungen weggefallen, heißt es in einer wissenschaftlichen Abhandlung von Ursula von Petz aus dem Jahr 1991.

Die bisherigen Bewohner seien unter strenger Kontrolle der Behörden „irgendwo versteckt“ oder auf Behelfswohnungen am Stadtrand verwiesen worden: „Wenn ihnen nicht noch viel Schändlicheres widerfahren ist.“ Sanierungswillige Eigentümer, neue Bewohner, Atelierbetreiber und Gastronomen hingegen „kamen in den Genuss kommunaler Investitionen, die ihnen eine Wertsteigerung ihres Standorts garantierten“, so die Autorin.

Nur die Keller sind geblieben

Nach den flächendeckenden Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg begann schließlich der zweite Neuaufbau des Martinsviertels. „Es war einhellige Meinung, dass dieses mit Mühe gerettete Traditionsviertel weitestgehend wieder auferstehen sollte“, sagt Ulrich Krings. Südlich der Lintgasse erlebte das städtebauliche Konzept der NS-Zeit eine Wiedergeburt.

Die Rekonstruktion der Pläne aus den 1930er Jahren war laut Krings kein Problem: „Bei der Denkmalpflege war eine Kontinuität vorhanden.“ Hans Vogts etwa blieb noch bis 1948 Stadtkonservator. Hanna Adenauer, Nichte des Bundeskanzlers Konrad Adenauer, setzte sein Werk fort. Mit der Zeit hielten immer mehr modernere Stile Einzug in das Quartier. Nur die Keller des Martinviertels haben alle Jahrhunderte und Ideologien überlebt.

KStA abonnieren