Haarewaschen bei minus 50 GradKölner Paar tauscht Südstadt gegen Leben in Kanada ein

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Seit drei Jahren leben Mutlu und Zenkl in der Einöde ganz im Nordwesten Kanadas

Seit drei Jahren leben Mutlu und Zenkl in der Einöde ganz im Nordwesten Kanadas

  • Sophie Mutlu und Peter Zenkl leben in der Einöde im Nordwesten Kanadas unter Grizzlybären und Bisons. Dabei lebten sie früher eine quirliges Leben in der Kölner Südstadt.
  • Porträt eines ungewöhnlichen Paares, das sein Leben radikal verändert hat – und nun an die Erfordernisse des Überlebens angepasst ist.

Als Peter Zenkl im vergangenen Winter bei minus 50 Grad einen Bison jagte, flohen seine Gedanken manchmal nach Köln. Er dachte an das Massimo in der Südstadt. Daran, dass dort gefüllte Teller auf den Tischen dampften. Dass Musik den Raum erfüllte, Menschen lachten. Dass er keine Jacke trug und trotzdem nicht fror. In Wirklichkeit aber campierte er nachts im Canvas-Zelt, der Wind heulte um die Plane, in den wenigen hellen Stunden versuchten er und ein Freund einen Bison einzukreisen. Die Kälte zehrte am Körper. Aber auch das Gewissen.

Denn einerseits wollten die Freunde mit Fleischvorrat nach Hause kommen. Andererseits: „Ich wollte die Ikone des Nordens ja doch nicht erschießen.“ Als sie nach zehn Tagen den Bison sichteten, lagen zwei Berghänge zwischen ihnen. Ein Kraftakt. „Ich habe es nicht mehr geschafft“, sagt er. Schließlich kehrte er zurück zu seiner Freundin in die Holzhütte. Ohne Braten.

Streifenhörnchen und Grizzlybären

Peter Zenkl und Sophie Mutlu leben seit drei Jahren in einer Holzhütte im Yukon. Sie haben ihr quirliges Leben in der Kölner Südstadt gegen die Einsamkeit ganz oben im Nordwesten Kanadas eingetauscht. Die nächste kleine Stadt ist Whitehorse, 25 000 Einwohner. Sie liegt etwa 45 Minuten über den Highway entfernt. Sonst gibt es im Yukon: Fichten, Kiefern, Tannen, Elche, Karibus, Streifenhörnchen, Grizzlybären.

Im Winter frisst die Dunkelheit das größte Stück des Tages, das Thermometer sinkt auf minus 50 Grad. Wölfe streifen heulend um die Holzhütte. Schnee liegt bis in den April. Der Tagesablauf folgt gerade in diesen Monaten den Erfordernissen des Überlebens: Feuerholz suchen, mit der Motorsäge losziehen, Bäume spalten, Schnee schmelzen, Kartoffeln und Zwiebeln ernten, Eisangeln, kochen, Reparaturen erledigen, zum Beispiel am Generator, ein Regal schreinern. Im Sommer sei das Leben dagegen eher wie in den Ferien: Waldbeeren sammeln, mit den beiden Hunden spazieren gehen, wandern, Kanu fahren. Ein Leben im Rhythmus der Natur. „Seit wir hier sind, waren wir nie krank“, sagt Zenkl am Telefon.

Im Winter zählt nur eins: Genügend Feuerholz sammeln.

Im Winter zählt nur eins: Genügend Feuerholz sammeln.

Er sitzt in seiner Holzhütte mit 20 Quadratmeter Grundfläche, gut 7140 Kilometer von Köln entfernt. Die Verbindung ist tadellos. Was daran liegt, dass das Handy auf der Staffelei steht – nur von dieser Position aus kann das Paar mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen. Sophie Mutlu besucht eine Bekannte in einer Hütte am anderen Ende des Waldes. „Sophie sagt: Dass wir so gesund sind, muss doch etwas heißen. Das muss doch der richtige Lebensweg sein.“ Der richtige Weg. Als der 31 Jahre alte Zenkl und die 33 Jahre alte Mutlu sich vor sieben Jahren kennenlernten, haben sie diese eingefahrenen Lebensautobahnen die da heißen „Karriere machen“ oder „Heiraten, Haus bauen, Kinder kriegen“ schnell verlassen.

Jobangebot aus Mexiko

Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften arbeitete Zenkl als Barkeeper, dann kam ein Jobangebot aus Mexiko, Mutlu kündigte ihre Leitungsposition als Ergotherapeutin in einer Klinik. „Es passte alles. Es war schnell klar: Wir sind ein Team, wir haben die gleiche Leidenschaft. Wir machen das zusammen“, erzählt Zenkl. Nordamerika sollte dann nur das lebenshungrige Projekt eines Sommers werden. Einmal Alaska sehen. Und dann kehrten Mutlu und Zenkl nicht mehr um. „So lange, bis wir einen Grizzly sehen“, sagten sie sich. Es wurde September. Sie hatten eine Panne. Sechs Wochen Stillstand. Und dann kam eins zum anderen. Der Winter umschlang den Bus mit eisigen minus 50 Grad. Sie fanden eine Hütte im Wald, die zu vermieten war. Nicht größer als ein Studentenzimmer. Ohne fließend Wasser. Aber: „Wir haben uns direkt in das Leben hier verliebt“, sagt Zenkl.

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Das Umfeld war nicht gleich begeistert vom neuen Lebenswandel. Ein Leben im Nirgendwo? Ohne geregeltes Einkommen? Ihr habt doch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Ihr könnt doch nicht einfach da so rumleben. Wann kommt ihr zurück? Natürlich vermisse er manchmal die Großstadt, das Ausgehen, das Shoppen, Kino, Cafés in der Südstadt und im Belgischen Viertel, Kunst, Musik. „Hier in Whitehorse gibt es höchstens mal ein Country-Konzert.“ Und doch klingt Zenkl, als hätte er gerade von einem Bier getrunken, das vom langen Rumstehen schon schal geworden ist, wenn er die übliche Lebensalternative umreißt:

Schrank vollgestopft mit Hemden

„Von neun bis fünf im Büro, aufs Wochenende hinfiebern, damit ich da endlich mein hart verdientes Geld ausgeben kann. Einen Sportwagen kaufen, obwohl man Autos gar nicht toll findet.“ Früher, sagt er, war sein Schrank vollgestopft mit Hemden. Er hat sie gerne bei Monsieur Courbet im Belgischen gekauft. Heute habe er drei Sätze Klamotten. „Und wenn ich ehrlich bin, ziehe ich nur einen Sweater an, einfach, weil der der wärmste ist.“ Loslassen. „Es ist ein Überlebenskampf“, sagt Zenkl und fügt hinzu: „Aber es ist schön.“

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Es ist nicht so, dass Zenkl und Mutlu der Frust in die Einöde trieb. Und doch scheint sie der Wunsch nach dem Weniger geleitet zu haben, die Frage nach dem Warum und die Erkenntnis, dass die Spirale Höher-schneller-weiter vielleicht gar nicht im Glück endet, sondern nur in der Burnoutklinik. Mutlu und Zenkl haben das Tempo gedrosselt. Weil das Leben hier einfach seine Zeit braucht. Wer duschen will, kann nicht einfach den Wasserhahn aufdrehen bis es dampft. Er muss mit einem tropfenden Beutel vorlieb nehmen, den man in die Bäume hängt. Im Winter muss es ein Waschlappen richten.

Vor dem Frühstück drücken Zenkl und Mutlu nicht auf den Knopf der Espressomaschine. Sie schmelzen Schnee. Sie schüren den Ofen. Sie geben Pulver in den blubbernden Topf. Und dann gibt es „Cowboykaffee“, natürlich ungefiltert. Bis zum Sonnenaufgang gegen elf Uhr haben die beiden genug damit zu tun, die Bude warm zu kriegen. „In Köln habe ich einfach die Heizung aufgedreht. Das kann jeder. Aber dass wir es hier in der Wildnis schaffen, jeden Tag für ein warmes Zuhause zu sorgen, das gibt mir eine unglaubliche Befriedigung“, sagt Zenkl.

Im Sommer gleicht das Leben langen Ferien.

Im Sommer gleicht das Leben langen Ferien.

Auch die Ernährung ist geprägt von Kargheit auf der einen und Aufwand auf der anderen Seite. Wenn Mutlu und Zenkl Lust auf Fleisch haben, müssen sie das kleinkalibrige Gewehr laden und hoffen, eines der flatterhaften Waldhühner zu erlegen. Was gar nicht so einfach ist. „Die Viecher sind klüger als man denkt.“ Zwar gibt es in Whitehorse einen Supermarkt, der bietet aber nur ein Basis-Programm. Salat oder Erdbeeren im Winter? Mangos? Basilikum? Gibt es einfach nicht. Zenkl und Mutlu legen deshalb ein, was sie im Sommer ernten. In der Hütte lagern Töpfe mit Sauerkraut und Cranberrys. Brot wird selbst gebacken. Häufig gibt es Kartoffeln und Zwiebeln aus dem Garten.

Überschaubarer Kostenapparat

Der Kostenapparat für ein Leben in der Einöde ist überschaubar. Weniger als 1000 Euro braucht das Paar nach eigenen Angaben pro Monat für den gemeinsamen Lebensunterhalt. Geld kommt, wenn er Fotos verkauft oder sie ein Kinderbuch illustriert. Davon bezahlen sie die Miete, Lebensmittel, das Handy, Energie, das Futter für die beiden Dobermänner, das Benzin für den VW-Bus und einen alten Jeep.

Kriecht abends nicht manchmal auch die Angst in die Hütte? Anfangs, so sagt Zenkl, hatte er großen Respekt vor den Grizzlys. „Wenn ich nachts mal rausmusste, fürchtete ich mich vor den glühenden Augen in der Dunkelheit“, sagt Zenkl. Noch heute trage er immer ein Bärenspray mit sich. Pulverisierte Chilischoten in der Dose. Im Ernstfall würde er versuchen, dem Grizzly damit auf die Nase zu zielen. Ausprobieren musste Zenkl seine Selbstverteidigungsstrategie noch nie. „Die sind noch nervöser als ich. Die Wahrheit ist: Die wollen uns Menschen nicht auflauern.“

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Aufwand. Verzicht. Einsamkeit. Und der Lohn? Reichtum im Kopf. „Mir tut das gut. Nur ohne diese Ablenkung kristallisieren sich wertvolle Sachen heraus, nur so kann ich wirklich kreativ sein.“ Im Stress, getrieben von Vergleichen, gelockt von Versuchungen zertrample der Mensch Ideen, auf die man einfach warten müsste. „Ich schreibe, ich fotografiere, Sophie zeichnet. Für uns ist es Glück, das wir machen, was wir lieben.“ Ein beruhigender Nebeneffekt: Wo der Mensch sich entschleunigt, profitiert auch die Natur. Langsamkeit ist Klimaschutz.

Ressourcensparsam leben wird selbstverständlich, wenn das Wasser nicht aus der Leitung kommt und der Strom mühsam über einen Generator erzeugt werden muss. Licht an und Netflix gucken ist da nicht. Wenn die Tage kurz sind, zünden sie Kerzen an, lesen sich vor. Reden über die Natur, die Abholzung der Wälder, das Töten von Pelztieren – „alles Dinge, für die wir uns schon früher interessierten, aber jetzt kriegen wir das nahe mit.“ Manchmal gucken sie zur Zerstreuung einen Film – ausgeliehen in einer Videothek in Whitehorse.

„Corona ist hier nie richtig angekommen“

Corona ist hier in der subarktischen Einöde übrigens kein Thema. „Das ist hier nie richtig angekommen.“ Die Pandemie hat hier in Deutschland viele Beziehungen auf die Probe gestellt. Fehlende Zerstreuung, Zurückgeworfensein auf die Kernfamilie. Was sagt ein Paar, das seit drei Jahren zusammen in einer 20-Quadratmeter-Hütte lebt, der nächste Nachbar wohnt eine halbe Stunde über den Highway entfernt? Zenkl lacht. Hier im Wald müsse man sich aufeinander verlassen können.

„Wir müssen einfach zusammen funktionieren. Hier kann man nicht bei jedem Problem wutschnaubend abhauen. Schließlich muss das Holz gehackt, der Ofen geschürt werden.“ Denn wenn das Feuer erlischt oder doch mal der Grizzly auf der Landstraße steht, während der Motor nicht mehr anspringt, dann geht es nicht mehr um Befindlichkeiten. Nicht mehr um „du machst nie“ und „immer muss ich“. Dann wird es hier existenziell.

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