Einsturz vor sieben JahrenSo lebt es sich heute am Kölner Stadtarchiv-Loch

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Der Ikarus des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums blickt auf die Baustelle.

Der Ikarus des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums blickt auf die Baustelle.

Innenstadt – Sieben Jahre sind vergangen, seit beim Einsturz des Stadtarchivs an der Severinstraße zwei Menschen getötet wurden und das Gedächtnis von Köln versank.

Wie lebt es sich am Loch im Vringsveedel? Wir haben die Menschen getroffen, die auch noch heute an der Unglücksstelle wohnen und arbeiten. Ein Stimmungsbild.

Die Wirtin: Nie mehr Absacker in der Kneipe nebenan

Jedes Jahr dieselbe Prozedur. Das steht in Anjas Spörks Gesicht geschrieben, als sie den Rolladen der Tür ihrer Kneipe „Papa Rudis“ mittags um eins öffnet. Genervt bis unwillig, aber auch brutal klar, beschreibt sie, wie sich der Jahrestag des Stadtarchiv-Einsturz für sie auf immer ähnliche Weise anbahnt.

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„Erst kommen sie, um die verwitterten Gedenktafeln gegen neue auszutauschen. Und dann stehen sie hier und suchen die Haken.“

Was für Haken? „Na, die Kranzhaken.“ Sie werden gebraucht, um die Blumenkränze für die Verstorbenen am Bauzaun der Unglücksstelle zu befestigen. „Und die habe  ich. Die vergessen sie jedes Jahr und werden panisch, weil sie nicht daran gedacht haben. Und dann komme ich. Ich organisiere hier alles vor meinem Loch.“

Dann kämen die  Leute her, „die sich sonst das ganze Jahr über nicht blicken lassen“, sagt die Wirtin. Letztes Jahr gab es so viele Schweigeminuten wie  Jahre seit dem Einsturz vergangen waren. „Ganz ehrlich? Ich hab’ Angst vor dem 25-Jährigen ...“ 

Hat sie mal daran gedacht, ihren Laden zu verkaufen? „Nein, nie“, beteuert die 41-Jährige. „Nur bei uns kommen die Leute ins Grübeln, wenn sie sagen, sie gehen einen Absacker trinken.“

Und: „Man gewöhnt sich an alles.“ Die gebürtige Rostockerin  ist die  ewigen  Nörgeleien über den Fortgang der Arbeiten satt, genau wie den Vorwurf, die Aufklärung dauere zu lange. „Es dauert so lange wie es dauert. Es muss halt gemacht werden. Es sind immerhin Menschen gestorben.“    

Der Anwohner: Currywurst rettete Anwohner das Leben

Wenn Peter Schmidt gefragt wird, wo er wohnt, antwortet er: „Auf der Baustelle.“ Davon gibt es in der Stadt zwar einige. Doch wahrscheinlich keine, die auf so großes Interesse stößt wie die, auf die der 66-Jährige  von dem Balkon seiner Mietswohnung am Georgsplatz schaut.

Von hier hat er einen unrühmlichen  Logenblick in den 43 Meter tiefen Schacht mit Grundwasser, das durch Vereisung des Lehmbodens versucht wird, im Zaum zu halten. Als direkt davor sieben Häuser einstürzten und zwei Menschen unter sich begruben, war Schmidt gerade in Sülz – Currywurst mit Pommes essen. Eine  Freundin rief ihn an und sagte: „Hier stürzen gerade die Häuser ein.“

Zuerst glaubte er an einen üblen Scherz. Danach weiß er nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist und sah schließlich „das ganze Elend“.

Hysterische, schreiende Menschen auf den Straßen auch noch anderthalb Stunden nach der Katastrophe.

Später dann ein kurzer Gang in seine Wohnung –in Begleitung der Feuerwehr. „Zuerst griff ich nach meiner Mappe mit den Versicherungsbeiträgen.“

Dann folgten drei Monate Unterschlupf bei wechselnden Freunden und Bekannten. „Ich wollte nicht ins Hotel, von wo aus ich das ganze Elend sah.“  Sein Haus konnte mit Hilfe eines Statikers gerettet werden. Doch von neun Mietern zogen fünf aus. Neben dem vielen Lärm seitdem („Oft zwischen 70 und  80 Dezibel“) und einer (zu verschmerzenden) Mietminderung, leidet Schmidt unter den Eingriffen in sein Veedel. Viele Bäume mussten fallen. Er vermisst das Grün. Dafür hat er seitdem viel Besuch auf seinem Balkon mit dem Baustellen-Blick auf die Baustelle – von Stadtoberen, von  KVB-Chefs und von vielen Journalisten. „Die Gespräche waren für mich auch Therapie.“

Und das  Haus, in dem er wohnt, ist nun das wohl sicherste in ganz Köln. Die Stadt Köln nämlich informiert die Anwohner am Loch immer als allererste über neue Schritte. „Stadtdirektor  Kahlen hat sich wirklich für uns engagiert.“

Seit kurzem sei es die KVB, die sich eng um die Anwohner kümmere. Auch hier sei der Kontakt bestens. Ein Kabel misst die Erschütterungen am Loch. „Gibt es nur eine minimale Abweichung, steht hier sofort die Feuerwehr.“

Mit den „Neuen“ habe er nichts zu tun. Mit Häme spricht er über den 127-Millionen-Neubau auf dem gegenüberliegenden  Gelände des ehemaligen Polizeipräsidiums.

„Plattenbau“ nennt Schröder den Komplex mit zwei Hotels, 89 Wohnungen, einer Hochschule für Gesundheitswesen und einigen Büros. Und meint damit: seelenlos. „Da will ich nicht abgemalt sein.“ Auch die Severinstraße im Süden des Waidmarkts sei nicht mehr die, die sie einmal war.

Der gelernte Einrichtungsberater will aber auch nirgendwo anders wohnen – trotz aller Einschränkungen und Baumfällungen. „Wo soll ich auch hin? Ich bin in der Südstadt groß geworden.“

Die Menschen hier seien zwar andere geworden.  Ihn halten „die Erinnerungen daran, wie es hier mal war. Die kann mir kein Sülz und kein Lindenthal geben“. Wenn er sich zum Jahrestag etwas wünschen dürfte, wäre das: „Viel Grün und eine Begegnungsstätte. Was Uriges.“

Die Überlebende: Ganz weiß vor lauter Staub

Für Bärbel von Hesberg vergeht kein einziger Tag, an dem sie an der Unglücksstelle nicht kurz innehält. Die Lehrerin am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium  wollte sich an  jenem 3. März vor sieben Jahren nur noch schnell einen Kaffee holen vor dem Nachmittagsunterricht.

An diesem bis dato „ganz schönen, sonnigen Tag“. Gegenüber, bei dem kleinen Bäcker, hätten zu der Zeit sonst immer viele Oberstufenschüler gestanden. „An dem Tag durch einen Zufall nicht.“ So kann Unterrichtsausfall Leben retten.

Mit Becher und Brötchen in der Hand bemerkte sie auf dem Rückweg  Handwerker, die aufgeregt wirkten – und sie hielt inne. „Da sah ich, wie in Zeitlupe schon ein Riss durch die Fassade ging.“

Sie ließ vor Schreck ihr  Brötchen fallen und hatte sogar noch kurz den Reflex, es wieder aufzuheben. Glücklicherweise entschied sie sich zu rennen und erreichte  in letzter Sekunde den Schuleingang. „Ich war schon ganz weiß vor lauter Staub.“

Dann hat sie mit den Kollegen begonnen, die Schüler auf den  Hof zu bringen. „Ich habe einfach nur funktioniert und erst in der Bahn nach Hause realisiert, was ich für ein Riesenglück  gehabt habe.“

Drei Jahre wurde die Schule an drei verschiedene Standorte ausgelagert. Auch das habe gezehrt, sagt von Hesberg. „Aber wir haben es geschafft. Und es hat unseren Zusammenhalt gestärkt.“ Die Schüler von damals  sind der Schule entwachsen.

Die 63-Jährige aber wird weiter  täglich mit jener Zäsur in ihrer Geschichte und der der Schule konfrontiert. Sie ist nachdenklich, mitunter auch ärgerlich.

Problematisch findet die Lehrerin, wie in Köln grundsätzlich mit  Aufklärung umgegangen werde. „Einer muss über die Klinge springen und dann wird die Verantwortung herumgereicht.“ Zutrauen, dass sich diese Haltung ändere, hat sie keines mehr.

Der Geistliche: Noch immer Risse an der Kirche

Bitterkeit. „Unheimlich viel Bitterkeit“, spürt  Hermann-Josef Reuther, Pfarrer von  St. Georg am Waidmarkt, in seiner Gemeinde, wenn es um den Einsturz des Stadtarchivs geht. Und zu viel Vergessen.

Außer den zwei jungen Männern, die unter den Trümmern zu Tode gekommen waren, sei  da etwa  auch noch „dat Finchen“ gewesen, wie die ältere Dame im Veedel nur genannt wurde. „Sie wohnte hier gleich um die Ecke und  verlor mit dem Unglück ihre Wohnung.  Sie hat viele Fernsehinterviews gegeben und sich  zwei Wochen danach mit Tabletten das Leben genommen. Sie hat den Verlust nicht ausgehalten.“ 

Reuther selbst saß in  seinem Arbeitszimmer, als es draußen krachte. „Dann wurde es dunkel.“

Kurz darauf betreute er Menschen, die wie hypnotisiert durch die Straßen liefen. Die Risse an seiner Kirche sind noch zu erkennen.  Ähnliche Narben müsse es in den Menschen geben. 

Umso weniger versteht er, dass das Unglück im Leben der Südstädter kaum noch eine Rolle zu spielen scheint. „Die, die es betroffen hat, sind abgehauen. Viele sind nach Bayenthal gezogen.“ Und für andere sei Belangloses  wichtiger.

Es sei zu schnell zur Tagesordnung übergegangen worden, findet der 59-Jährige. „Es ist schwer, das auszuhalten.“ 

Die Geschäftsfrau: Stärkung für die Arbeiter

Vor dem Einsturz Schneiderei, jetzt Café mit Brötchen-Lieferservice: Selma Sit bezog mit ihrem Lokal namens  „Pausenbrot“ im Juni vor zwei Jahren das Ladenlokal an der Ecke zur Löwengasse.

Geboren in der Südstadt, fühlt sich  die 37-Jährige hier zugehörig, obwohl sie mit ihrer Familie inzwischen in Niederaußem lebt.

Neben der Einsturzstelle serviert sie hausgemachte Sandwiches, Suppen und Salate –  und zeigt in wechselnden Ausstellungen Kunst und Handwerk aus der Nachbarschaft. Fast alles mit Köln-Motiven.

Der Einsturz ist unter ihren Kunden kein Thema mehr, sagt sie. „Das ist ein Stück verdaut.“ Arbeiter aus der Grube stärken sich gerne bei ihr, auch die Mitarbeiter der KVB aus der Leitstelle um die Ecke.

Vom Fotografen bis zum Staplerfahrer hat jeder bei ihr seinen Platz. Hier sind alle per Du.   Zu den Produkten ihrer Nachbarn, die die dreifache Mutter  ausstellt,  gehört auch mal ein Teppich des Kollegen Franz Ten Eikelder von gegenüber. „Ich kann  ja nicht jeden Tag einen Teppich kaufen“, sagt die Südstädterin. „Aber er kommt jeden Tag seinen Kaffee bei mir trinken.“

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