Gesticktes GedankengutKölner Künstlerin schreibt ein Buch mit Nadel und Faden

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Frau in rotem Pulli in ihrem Atelier vor einem großen, vollgeschriebenen Buch. Die Schrift ist gestickt.

Die Kölner Künstlerin Ulla Struve mit ihrem Kunstbuch

Künstlerin Ulla Struve fragte Menschen, wie es ihnen geht und stickte die Antworten mit Nadel und Garn zu einem Buch.

Es ist nur eine Sekunde am Nachmittag des 6. April 2021, die zwar nicht ihr Leben zerstört, jedoch einen wesentlichen Anteil zunichtemacht. Ihre Bildhauerei. Ulla Struve will an diesem Tag ihren an Corona erkrankten Freunden im Belgischen Viertel Eis bringen. Wegen der Schutzmaske beschlägt ihre Brille, sie übersieht eine Marmorstufe im Treppenhaus und fällt so unglücklich auf ihr linkes Schultergelenk, dass der Arzt im Krankenhaus später nur noch feststellen kann: „Da ist nichts mehr zu machen.“ Struve ist fassungslos.

Mitbegründerin des ersten autonomen Kölner Frauenhauses

Dabei hatte der Tag mit einer so guten Nachricht angefangen. Ulla Struve hatte Wochen zuvor in einer Anzeige im „Kölner Stadt-Anzeiger“ gelesen, dass die GAG Künstlern vorübergehend leerstehenden Wohnraum anbietet, sich „noch nachts beworben“ und an jenem Apriltag die Zusage erhalten. Nun hatte sie zwar ein Atelier, aber nicht mehr die zwei gesunden Arme, die sich für ihre Kunst brauchte.

Eine voll geschriebene Seite aus einem großen Buch. Der Text ist gestickt.

„Die Zukunft ist jetzt, nicht irgendwann!“, sagt Dietmar, 52 Jahre alt, in seiner Antwort an Ulla Struve.

Ulla Struve hat die Bildhauerei erst relativ spät begonnen. Eigentlich ist die 68-Jährige studierte Sozialpädagogin, sie war viele Jahre in der Familienbildung und – vor allem – immer politisch tätig. 1976 begründete sie mit anderen das erste Kölner Frauenhaus und war eine Zeitlang auch Mitarbeiterin dort.

Ende der 90er Jahre begann sie, sich der Bildhauerei zu widmen, lernte unter anderem beim Kölner Künstler Sebastian Probst. Ihre Skulpturen kann man noch immer in ihrem Atelier bewundern, allerdings werden keine neuen hinzukommen. Nach dem Unfall mischten sich bei Ulla Struve Trauer, Wut und Sorge; Sorge dahingehend, dass sie aufgrund der coronabedingten Kontaktsperre ihre Tagesstruktur verlieren könne. Also beschloss sie, den gerade erhaltenen Raum nicht aufzugeben und das Schicksal als Chance zu sehen. „Das war meine Rettung“, sagt sie heute.

Gedanken mit Nadel und Faden niederschreiben

Weil sie sich früher auch schon mal mit Drucktechnik beschäftigt hatte, nahm die gebürtige Kölnerin Material mit ins Atelier und begann mit kleinen Arbeiten. Dann kam ihr das Sticken in den Sinn. Obwohl sie zu dieser Handarbeit nie eine Affinität hatte, reizte es sie nun, Gedanken mit Nadel und Faden niederzuschreiben. „Der Vorteil beim Sticken ist: Du brauchst dazu nur den rechten Arm.“ Der linke war damals nämlich noch in einer Schlinge und taugte höchstens zum Beschweren. Da ihr Atelier damals in Kalk war, fertigte sie zwölf Tücher zu diesem Stadtteil; unter anderem mit dem Schriftzug „steh auf“, da „kalk“ auf Türkisch „aufstehen“ heißt. Und dann passierte das, was man sich im Anschluss an die Corona-Pandemie am wenigstens gewünscht hatte: ein Krieg in Europa.

Fassungslos über den Krieg

Struve war fassungslos. Sie, die seinerzeit gegen „Pershing 2“-Raketen demonstriert und „Nie wieder Krieg!“ skandiert hatte, schaute erschüttert auf die Fernsehbilder vom russischen Angriffskrieg. Und dann begann sie, ihre eigenen Gedanken niederzuschreiben – mit rotem Faden und stumpfer Nadel, aber natürlich nicht in verschnörkelter Schönschrift, sondern so, wie es ihr ihr Inneres vorgab. Nachdem zwei große Tücher vollgestickt und ihre Gefühle in Worte gefasst waren, fragte sie sich, wie wohl die anderen Menschen fühlen. Sie suchte sich zwölf Personen unterschiedlichen Alters aus, interviewte jede einzelne stundenlang, tippte die Antworten ab und stickte dann die Quintessenz mit der Hand auf 1,20 mal 0,60 Meter große Filzstücke.

Das für sie Erstaunliche war, dass sich im Zuge des Überlegens bei den Befragten neue Sichtweisen herausschälten. Da war plötzlich nicht mehr nur das Gejammer über die blöde Maske, und dass man damit so schlecht den To-go-Kaffee trinken kann. „Da kam Positives. Dass man draußen die Vögel wieder hört. Dass man die Freunde wieder treffen kann. Dass die Menschen nicht mehr alleine im Krankenhaus sterben.“ Sie habe teilweise Tag und Nacht gestickt und sei manchmal am Tisch eingeschlafen. „Es war eine Herkules-Arbeit.“ Allerdings auch, wie sie meint, eine gute Art, Meinung zu präsentieren. „Wenn man etwas mit Fizstift auf ein Plakat schreibt, liest das kaum jemand. Wenn es gestickt ist, schon.“

Struve hat in der Zwischenzeit ein neues Interim-Atelier im Haus der ehemaligen Volvo-Zentrale in Rodenkirchen bezogen und zusammen mit anderen Künstlern ein Kollektiv sowie die Plattform „Kunstspecht“ gegründet, „eine digitale Produzenten-Galerie, wo man Kunst leasen oder kaufen kann“. Ihr Interview-Buch ist indes unverkäuflich, aber sie würde es gerne an Pfarreien oder dorthin ausleihen, wo damit gearbeitet werden kann. Ausgestellt ist es demnächst erstmals im Alten Pfandhaus am Kartäuserwall. Die Vernissage ist am 19. Januar (18-22 Uhr), danach sind Struves Werke und die der anderen Künstler des Kollektivs eine Woche lang von 16-19 Uhr zu sehen. 

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