Kölner Shoah-Überlebende„Schießt doch!“ rief ihre Mutter den Wachen zu

Lesezeit 10 Minuten
82360921

Vor 77 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit.

Pulheim – Tamar Dreifuss hielt die Hand ihrer Mutter ganz fest. Wenn ich ihre Hand loslasse, bin ich verloren, dachte sie. Die Hand ihrer Mutter, sie war wie ein Felsen, bei dem sie Schutz suchte. An diesem Herbsttag 1943 blickten Mutter und Tochter einem Mann entgegen, der die Schlange im Durchgangslager nahe Tauroggen teilte: Die arbeitsfähigen Gefangenen dirigierte er nach links, Kinder und alte Menschen nach rechts.

Lass dein Kind los, sagt der Mann zu Jetta Schapiro. Du bist jung, du kannst arbeiten. Schapiro nahm die fünfjährige Tamar auf den Arm. Nur über meine Leiche, erwiderte sie. „Da winkte er uns nach rechts und meine Mama wusste, das bedeutet den Tod“, erinnert sich Tamar Dreifuss.

Tamar Dreifuss wurde 1938 als Tamar Schapiro in Vilnius geboren, Litauen. Die Nationalsozialisten ermordeten dort fast die gesamte jüdische Bevölkerung, mehr als in irgendeinem anderen Land: 97 Prozent starben. An den Verbrechen der Nazis beteiligten sich auch einige Litauer. Doch obwohl der Mann in Tauroggen sie zum Tode verurteilte, überlebte Tamar Dreifuss – dank einer Reihe glücklicher Zufälle und dem Mut ihrer Mutter.

Nach dem Krieg lebte Dreifuss rund 60 Jahre bei Köln, wo sie die Geschichte ihres Überlebens an Schulen erzählte, in Büchern und hier dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Tamars Großeltern wurden in einem Wald erschossen

Als ihre Familie zum ersten Mal vertrieben wurde, war Tamar zwei Jahre alt. Die russische Armee hatte ihr Haus in Vilnius beschlagnahmt und gab ihnen 48 Stunden, um in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Ponar zu ziehen, zehn Kilometer von Vilnius entfernt. „Die Soldaten waren nicht sonderlich gut zu uns Juden“, sagt Dreifuss. „Aber sie haben nicht gemordet.“ Das Morden, das begann ein Jahr später, als die Wehrmacht in Litauen einmarschierte. Am Jom Kippur 1941, dem höchsten jüdischen Feiertag, verschleppten sie Gläubige aus einer Synagoge in Ponar, führten sie in den Wald und eröffneten das Feuer. Es war der Tag, an dem Tamars Großeltern starben.

Tamar Dreifuss und Samuel Bak

Tamar Dreifuss als Dreijährige mit ihrem Cousin Samuel Bak. Auch Bak überlebte, wanderte in die USA aus und wurde ein erfolgreicher Künstler.

Kurz darauf holte Tamars christliche Großtante Janina das Kind ab, sie wollte Tamar verstecken. Beim Abschied redete Jetta Schapiro auf ihre weinende Tochter ein: Sie hieße von nun an Teresa, ihr Vater sei nicht Jascha, sondern Josef, der Name ihrer Mutter sei Jadwiga, nicht Jetta. Tamar verstand nicht, in welcher Gefahr Menschen mit einem jüdischen Namen schwebten, sie mochte ihren Namen. Wieso musste sie Teresa heißen?

Tante Janina kümmerte sich eineinhalb Jahre um Tamar, ließ sie sogar taufen. In einem weiteren Zimmer des Hauses musste Tante Janina einen Nazi beherbergen, mit dem Tamar sich gut verstand – bis sie ihm den richtigen Namen ihres Vaters verriet. Ich werde sie nicht verraten, sagte der Mann zu Janina. Aber das Kind muss weg von hier. 

In Lebensgefahr wegen ein paar Eiern

Tamar ging mit ihren Eltern ins Ghetto von Vilnius. Auf der Straße lagen Menschen, manche von ihnen am Leben, manche tot, sie waren in Lumpen gekleidet, bettelten, mit blassen und verbitterten Gesichtern. An diesem Tag fing Tamar an zu verstehen, dass es schlecht war, jüdisch zu sein, in diesem Land, in dieser Zeit. Dass sie Angst haben musste vor Menschen. Tamars Vater, der außerhalb des Ghettos arbeitete, riskierte sein Leben, um Essen zu seiner Familie zu schmuggeln, meistens Eier. Doch seine Tochter hatte keinen Appetit, wurde immer magerer.

Nach sechs Monaten im Ghetto kam der Tag, an dem die Nazis alle Bewohner aufforderten, die Häuser zu verlassen. Tamars Familie versteckte sich in einem ausgehobenen Keller, verharrte dort einige Stunden. Die Fünfjährige lauschte den Atemzügen ihres Vaters. Ein, aus. Ein, aus. Manchmal, sagt Tamar Dreifuss, kann sie den Atem heute noch spüren.

Dann bauten sich Soldaten am Kellereingang auf. Alle Männer raus, ansonsten sprengen wir den Keller. Tamars Vater verabschiedete sich von seiner Familie und ging. An diesem Tag sah sie ihn zum letzten Mal.

Wenige Tage später sollte der Rest der Familien ihren Männern folgen. Jetta Schapiro hoffte auf ein Wiedersehen, sie stieg mit Tamar in den Viehwaggon. Zehn Tage verbrachten sie dicht gedrängt in dem Waggon, das wenige Essen bekamen die Kinder. Jetta Schapiro stand schützend über ihrer Tochter und merkte: Wenn der Waggon am Zielort ankam, würden sie Jascha Schapiro nicht wiedersehen. Sie beschloss zu fliehen.

Flucht aus dem Lager

Als der Wagon das erste Mal anhielt, schnappte Jetta Schapiro sich Tamar und rannte, doch die Soldaten erwischten sie und schlugen auf Schapiro ein. Beim dritten Schlag wurde sie ohnmächtig. Doch beim nächsten Halt versuchte sie erneut zu fliehen, mit Tamar und einem elternlosen Jungen an der Hand. Schießt doch! Schießt doch!, rief Jetta Schapiro den Wachen zu. Einer zog ihr sein Gewehr über den Kopf, so heftig, dass sie einige Tage kaum hörte. Sie fuhren weiter, bis kurz vor Tauroggen, wo der Mann Mutter und Tochter in die Gruppe sortierte, die sterben sollte.

Die Soldaten schickten die Gefangenen zu den Gemeinschaftsduschen. Während sich alle entkleideten, suchte sich Jetta Schapiro aus den abgelegten Kleidungsstücken eines der schönsten Kleider heraus und machte sich zurecht, trug sogar Lippenstift auf. Sie kämmte Tamars Haare, band ihr eine rote Schleife ins Haar und zog ihr ein rotes Kleidchen an. Den Judenstern hatte sie abgerissen.

Dann ging sie, hinaus in Richtung Lagerausgang. „Meine Mutter ging ganz stolz“, sagt Dreifuss. „Nicht wie eine Gefangene. Sie versuchte mit letzter Kraft, wie ein Mensch auszusehen.“

Einige Soldaten aßen in der Nähe ihre Mahlzeit. Keiner stoppte sie, vielleicht hielten sie die beiden für Besucher. Als sie auf das Tor zuliefen, fielen in der Nähe Schüsse, die Wache am Tor lief nach draußen, um nachzusehen. Jetta Schapiro und Tamar gingen hinaus, raus aus dem Lager.

Der Hund, der ihnen das Leben rettete

Tamar Dreifuss

Tamar Dreifuss überlebte als Kind den Holocaust. 

Von diesem Moment an waren sie auf der Flucht. Jetta Schapiro gab sich als Russin aus und suchte Arbeit auf Bauernhöfen, wo sie für Essen und ein warmes Bett schwerste Arbeit verrichtete. Die anderen Arbeiter hielten Tamar für stumm, sie redete ja nie. Auf einem Hof lebte auch ein Hund, Tigris. Er war groß, ein Mischling mit braun-weißem Fell, ein Schutzhund, der Fremde angreifen sollte. Die Arbeiter auf dem Hof trauten sich nicht in seine Nähe. Es gibt keine bösen Hunde, sagte Jetta Schapiro zu Tamar. Wenn die Menschen böse werden, sind die Hunde unsere besten Freunde.

Jetta Schapiro besuchte Tigris an seiner Hütte, sprach zu ihm. Anfangs bellte er, dann fing er an, mit dem Schwanz zu wedeln, wenn sie kam. Als Jetta Schapiro den Bauern fragte, ob sie Tigris künftig sein Futter bringen könne, lachte er sie aus. Willst du, dass deine Tochter eine Waise wird?

Gegen Ende des Krieges kamen litauische Partisanen auf den Hof. Auch sie hassten Juden. Jetta Schapiro hörte nachts ihr Getuschel. „Ich glaube, die Frau mit dem Kind ist eine Jüdin.“ Sie planten, ihr etwas anzutun. Am nächsten Tag ging Jetta Schapiro nicht zur Arbeit, sondern versteckte sich mit Tamar in Tigris Hütte. Sie war so groß, dass man sie von außen nicht ganz einsehen konnte.

Zwei Tage verharrten Mutter und Tochter dort dicht aneinander gedrängt, Tamar zitterte, sie sagte kaum ein Wort. Tigris lag vor der Hütte und bellte. Der Chef brachte Tigris nun wieder sein Futter, doch der Hund rührte es erst an, wenn Jetta Schapiro und Tamar sich eine Kartoffel herausgenommen hatten. 

Rückkehr nach Vilnius

Schule in Hennef baute Skulptur zu Tamar Dreifuss' Leben

Der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar wird seit 1996 in Deutschland begangen, im Jahr 2005 wurde er auch von den Vereinten Nationen als Gedenktag eingeführt. Er verweist auf den 27. Januar 1945, an dem die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreite. 

In der Gesamtschule Meiersheide, Hennef, haben Schüler eine begehbare Skulptur über Tamar Dreifuss' Flucht geschaffen. Das Projekt „Tamar Dreifuss - Erklären-Erzählen-Erleben“ präsentierte die Schule in Anwesenheit von Dreifuss. Sie selbst hatte der Audio-Führung durch die Installation ihre Stimme gegeben. 

Über ihre Flucht hat Tamar das Kinderbuch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944“ verfasst, in dem sie ihre Rettung und ihre Tage in Tigris' Hundehütte kindgerecht wiedergibt. Auch ihre Mutter Jetta Schapiro erzählt die Geschichte ihrer Flucht in dem Buch „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“. 

Sie hörten Schüsse: Die Rote Armee beschlagnahmte den Hof. Jetta Schapiro und Tamar krochen aus der Hundehütte und gaben sich dem Kommandanten gegenüber als Juden zu erkennen. Der Kommandant, selber jüdisch, weinte, als er merkt, dass die Frau und das kleine Mädchen Überlebende waren. Er besorgte Jetta Schapiro und Tamar Papiere und eine Fahrgelegenheit nach Vilnius. Tamar ließ ihre Puppe in Tigris Hütte zurück. Als Abschiedsgeschenk an den Hund, der ihr Leben rettete.

Das Vilnius, das sie einmal kannten, war verschwunden, begraben unter Schutt und Asche. Weine nicht Mama, sagte Tamar. Gleich sehen wir Papa wieder.

Tante Janina, Tamars Cousin Samuel und eine weitere Tante hatten den Krieg überlebt. Die Männer der Familie fehlten. Jascha Schapiro wurde im Konzentrationslager Stutthof ermordet, 473 Kilometer von Vilnius entfernt.

Leben im Land der Täter

Jetta Schapiro und Tamar zogen in ein Lager für geflüchtete Juden in Landsberg, errichtet von den Amerikanern. Hier sind alle Juden, sagte Schapiro zu ihrer Tochter. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Tamar lernte, Menschen wieder anzusehen, fand zum ersten Mal Freunde in ihrem Alter, Jetta Schapiro heiratete einen Mann, der gut zu Tamar war, aber nie ein Vater für sie wurde.

1948 wanderte die Familie nach Israel aus. Dort machte Tamar nach ihrem Schulabschluss eine Ausbildung zur Erzieherin und heiratete Harry Zwi Dreifuss, einen jungen Deutschen, der mit seiner Familie bereits in den 30er Jahren nach Palästina gekommen war.

Tamar und Harry Dreifuss

Harry und Tamar Dreifuss in ihrem Haus in Pulheim (Archivbild vom Januar 2019)

1959 verließen Harry und Tamar Dreifuss Israel und zogen nach Köln. Harry Dreifuss, ein Kameramann, hatte dort eine Arbeit gefunden, die er liebte. Tamar Dreifuss jedoch liebte Israel. Sie fand es furchtbar, in das Land zu ziehen, das für den Tod ihres Vaters verantwortlich war.

40 Jahre arbeitete sie in dem Kindergarten der jüdischen Gemeinde in Köln. Als sie in Rente ging, wollte sie „etwas Nützliches machen, für mich, für mein Volk“. Tamar Dreifuss begann Schulen zu besuchen und zu erzählen. Vom Mut ihrer Eltern, von dem Mann im Lager bei Tauroggen, von Tigris. Sie schrieb ein Kinderbuch über ihre Flucht, übersetzte das Buch ihrer Mutter ins Deutsche, setzte sich für den Austausch von Schülern aus Israel und Deutschland ein.

Das könnte Sie auch interessieren:

„Deutschland ist meine Aufgabe“

Für ihre Arbeit bekam sie das Bundesverdienstkreuz und den Giesbert-Lewin-Preis der Kölnischen Gesellschaft. Bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zitierte sie Bernard Shaw: Wir lernen aus Erfahrung, dass die Menschen nichts aus Erfahrung lernen. Die Würde des Menschen dürfe nie, niemals angetastet werden. „In einer Lesung wurde ich gefragt: Wo ist deine Heimat?“, sagt Dreifuss: „Meine erste Heimat ist Vilnius, da bin ich geboren. Meine zweite Heimat ist Israel, dort habe ich eine glückliche Jugend verbracht. Deutschland ist meine Aufgabe.“

Tamar Dreifuss, heute 83 Jahre alt, verließ vor einem Jahr ihr Haus in Pulheim und zog nach Bayern, um näher bei ihren Kindern zu leben, näher an dem Pflegeheim ihres demenzkranken Mannes. Harry Dreifuss infizierte sich mit Corona und starb. Nun erzählt Tamar Dreifuss in bayrischen Schulen von ihren Eltern, von dem Mann bei Tauroggen, von Tigris.

Wenn sie Bilder von Rechtsextremen im Fernsehen sieht, wie sie antisemitische Parolen brüllen, wird sie wütend. Oder, wenn sich Querdenken-Demonstranten mit verfolgten Juden vergleichen. „Dann habe ich gesehen, dass dort Menschen in Häftlingskleidung stehen und die Juden ins Spiel bringen!“ Ihre Stimme am Telefon wird kurz lauter. „Das ist doch schrecklich!“

Durch die Lesungen, sagt Tamar Dreifuss, habe sie viele Freunde gewonnen. Es gebe auch gute Menschen. Ihre Kinder wuchsen ohne Angst auf, sie seien stolz darauf, Juden zu sein. Und sie wuchsen in einem Haus auf, in dem immer Hunde lebten.

KStA abonnieren