Kölner UniklinikPerspektive für Tausende Patienten

Brunhilde Wirth (l.) im Labor mit Post-Doktorandin Eva Janzen
Copyright: Peter Rakoczy
Köln-Lindenthal – Es war ein Lehrer auf ihrem Gymnasium in der Nähe von Sibiu im rumänischen Siebenbürgen, der Brunhilde Wirth für die Biologie begeisterte. „Er war ein begeisterter Genetiker und wollte, dass ich Medizin studiere.“ Den Alltag im Krankenhaus konnte sie sich damals als Job nicht vorstellen, deshalb studierte die heute 59-jährige Biologie und ging später in die Forschung. Heute widmet Wirth ihre gesamte Forschung und Diagnostik den Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen. Für ihre Arbeit im Bereich der spinalen Muskelatrophie erhielt sie am Montag den mit 100 000 Euro dotierten Innovationspreis des Landes Nordrhein-Westfalen.
Die spinale Muskelatrophie ist die häufigste genetische Ursache, die zum frühen Tod im Kindesalter führt. Jedes 6000. Neugeborene leidet unter dieser Form des Muskelschwunds, jeder 35. Mensch hat sie in ihren genetischen Anlagen. 30 000 Menschen leiden in Europa und den USA an der Erkrankung. Bei den Patienten verkümmern im Lauf der Erkrankung die motorischen Nervenzellen, die sich im Rückenmark befinden.
Kinder haben kurze Lebenserwartung
Die vom Gehirn gesendeten Impulse werden nicht mehr an die Muskeln weitergeleitet, woraus der Muskelschwund resultiert. In schweren Fällen sind die Muskeln des gesamten Körpers der Patienten betroffen. Die Menschen können in diesem Fall weder stehen noch laufen oder sitzen. Das Sprechen fällt ihnen schwer, sogar die Atmung. Heilbar ist die Erkrankung nicht, schwer betroffene Kinder haben eine nur kurze Lebenserwartung.
Nachdem Wirth in Bukarest studierte, ihre Doktorarbeit am Institut für Humangenetik der Bonner Uniklinik anfertigte und als Postdoktorandin in London arbeitete, wurde sie Nachwuchsgruppenleiterin am Institut für Humangenetik der Bonner Uniklinik. Die Erforschung der Ursachen und Behandlung der spinalen Muskelatrophie wurde zu ihrer beruflichen Lebensaufgabe. Ein Schlüsseljahr war 1990. Damals begann sie nicht nur mit ihrer Forschung in diesem Bereich. Damals wurde auch die Ursache für die Erkrankung auf dem menschlichen Chromosom 5 kartiert. „Damit fing alles an. Vor 1990 war alles unbekannt, dass Genom eine weiße Fläche“, sagt die Wissenschaftlerin beim Gespräch im Zentrum für Molekulare Medizin der Kölner Uniklinik. Wirth blieb am Ball, wechselte als Professorin von Bonn nach Köln, wo sie 2003 das Institut für Humangenetik gründete. Dessen Direktorin ist sie noch heute. Mit Leidenschaft und Begeisterung macht Wirth Forschung, Lehre und Krankenversorgung.
Wirth und ihr Team haben Pionier-Arbeit im Bereich der spinalen Muskelatrophie geleistet und den zugrundeliegenden Mechanismus der Erkrankung erkannt. Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) fehlt den Betroffenen das Gen SMN1, alle verfügen jedoch über ein oder mehrere SMN2 Kopiegene. Wirth entdeckte, warum SMN2 falsch gebildet wird und somit SMN1 nicht ausgleichen kann. Wirth fand zudem Menschen, denen das Gen fehlte und die dennoch nicht erkrankten, weil sie offenbar über andere schützende Gene verfügten. Eines von ihnen ist das Neurocalcin delta (NCALD), das, wenn man es in den Zellen verringert, einen positiven Effekt auf die Krankheit hat.
Patente für Präparate
Bei SMA-Zebrafischen und SMA-Mäusen konnte 2016 das Gen reduziert und die sogenannte Endozytose verbessert werden. In der Endozytose werden Flüssigkeiten und Feststoffe von Nervenzellen aufgenommen – unter anderem der Neurotransmitter Acetylcholin. Ohne ihn funktioniert die Übertragung der Signale vom Nerv zum Muskel nicht. In Kombination mit der bislang üblichen Therapie mit SMN-Antisense-Oligonukleotiden zeigte das Verfahren im Mausversuch positive Effekte auf die Nervenzellen. Das Verfahren ließ sich Wirth patentieren. 2016 wurde die von der Pharmafirma Ionis Pharmaceuticals und Biogen entwickelte Therapie (Spinraza TM) von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde zugelassen.
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Wirth hat bereits im Jahr 1999 die Grundlage für Spinraza TM gelegt, als sie herausfand, warum SMN2 falsch gebildet wird und dass dieser Prozess umkehrbar ist. Während mit Spinraza TM die SMA gestoppt und – wenn vor Krankheitsbeginn Menschen ohne das Gen SMN1 therapiert werden, sich einige nahezu symptomfrei entwickeln –, sollen die schützenden Gene die Funktion der Nervenzellen im Rückenmark unterstützen. Auf diese Weise soll allen Menschen mit dem SMN1-Verlust, der Effekt zu Gute kommen, den Wirth bislang bei nur einzelnen Familien gefunden hat. Weitere schützende Gene wurden mit dem Plastin 3 und jüngst mit dem Calcineurin EF-hand Protein 1 (CHP 1) identifiziert. Die zusätzliche Reduktion von CHP 1 in Kombination mit der Spinraza-TM-Therapie führte im Tierversuch zu einer 1,6-fachen Verlängerung des Lebens und einer Verbesserung der Hauptkrankheitsmerkmale. Auch diese Erfindung wurde von Wirth patentiert.
„Frau Professor Wirth ist eine überragende Wissenschaftlerin, deren hartnäckige Recherchen zu einem Durchbruch beim Verständnis und bei der neurogenetischen Behandlung der spinalen Muskelatrophie geführt hat“, so NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart. „Ihre Arbeit am Kölner Institut für Humangenetik verbindet Spitzenforschung und konkrete Anwendung in beispielhafter Weise und eröffnet damit Zehntausenden Erkrankten in Europa neue Perspektiven.“
Mitarbeiter sollen vom Preis profitieren
Das Preisgeld will Wirth in ihre Forschung stecken. Besonders ihre Mitarbeiter sollen vom Preis profitieren, sollen beispielsweise mit der Förderung auf Kongresse fahren können und sich fortbilden. Denn das Geld wird nicht reichen, um ihre Patente in eine klinische Studie zu führen. „Da müssen richtige Pharmafirmen dran.“ Sie selbst will der Forschung und Köln treubleiben. „Köln ist ein toller Forschungsstandort, weil die Zusammenarbeit von Medizinischer Fakultät, Uniklinik sowie der Naturwissenschaftlichen Fakultät großartig funktioniert.“ Den Kopf frei vom Labor bekommt sie beim Wandern und Reisen. Beides wird die Mutter einer Tochter in diesem Jahr beim Urlaub in Nepal miteinander verbinden.