Nach Leitersturz gelähmtDie Kunst zu kämpfen

Rainer Broicher
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Köln – „Sagen wir einmal so: Meine tänzerische Karriere ist wahrscheinlich beendet.“ Seinen Humor hat er nicht verloren. Obwohl ihm oft genug einfach zum Heulen zumute ist. Doch in seinem Satz kommen ebenso sein Realismus wie seine Hoffnung zum Ausdruck. Der Arzt Rainer Broicher ist seit einem tragischen Sturz von einer Leiter im Garten vor einem Jahr vom vierten Halswirbel abwärts gelähmt. Seitdem sitzt der 49-jährige Familienvater im Rollstuhl und ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Er kann nicht mehr fühlen, wenn Frau Claudia oder seine Töchter Leonie (13), Annabelle (12) und Caroline (11) ihn berühren, wenn sie dies nicht im Gesicht oder auf der Schulter tun. Er kann sie nicht mehr in den Arm nehmen. Er merkt nicht, wenn er droht zu unterkühlen. Er kann keine lästige Fliege von seiner Nase scheuchen; seiner Frau nicht mehr helfen, wenn sie mal wieder ein Gurkenglas nicht geöffnet bekommt; nicht essen, wenn ihm keiner etwas reicht.
Doch der Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Karnevalist der Ehrengarde der Stadt Köln, deren Kinder- und Jugendtanzgruppe er zehn Jahre leitete und bei der er als Generalfeldpostmeister fungierte, gibt sich nicht auf. Während seiner Rehabilitation begann er, der nicht einmal seine Finger bewegen kann, zu malen. „Die Alternative wäre Körbe-Flechten gewesen“, sagt er und demonstriert die Technik, mit der er ein Bild mit einem Pinsel im Mund, den er alleine nicht wechseln kann, ohne Pause durchmalt. „Ich muss mir vorher nicht nur die Struktur des Bildes genau überlegen, sondern auch, welche Bereiche als erste die hellste Farbe bekommen, bevor ich die dunkleren Tupfer setze.“ Die Farbtöne mischt der Lindenthaler selbst mit seinem Mundstabpinsel.
Vier bis sechs Stunden dauert es, bis ein Kunstwerk fertig ist. Die Motive des am Rosenmontag 1965 geborenen Vollblut-Karnevalisten, der viele Jahre das Kinderkostümfest der Ehrengarde organisierte, sind natürlich kölsche. Zwölf Stadtansichten, gemalt nach Foto-Vorlagen auf dem Tablet-Computer, waren es schnell. So entstand seine Idee zu einem Kalender, der nun erscheint. Zwei Euro je verkauftem Exemplar will er an das Zentrum für selbstbestimmtes Leben von Behinderten für Behinderte spenden. „Jetzt habe ich ja leider mehr als genug davon, was ich früher nie hatte: Zeit.“ Gern hätte er darauf verzichtet.
Er bereut die „vermessene Idee“, allein auf den Kirschbaum zu klettern. Den wollte er beschneiden, weil ein Nachbar sich beschwert hatte, dass die Äste in sein Grundstück ragten. Wut auf den Mann hat er nicht. „Warum? Er ist doch nicht verantwortlich dafür, dass ich mit der Motorsäge 14 Meter hoch da reingeklettert bin.“ Er habe dies oft getan und sei ein guter Kletterer gewesen. Und doch hatte er an dem Tag ein mulmiges Gefühl.
Jetzt müssen die Menschen um ihn sportlich und kräftig sein. Dies zu akzeptieren sei für die anderen sehr viel schwerer als für ihn. „Ich sehe mich so ja nicht, sondern immer noch so, wie ich war.“ Seine Frau hat es noch nicht verkraftet. Doch sie und die Kinder seien „sehr stark, lieb und umsorgen mich sehr“. Lichtschalter, Telefon, Fernsehen, Rollladen kann er dank einer Infrarot-Anlage mit Kinn- oder Sprachsteuerung zu Hause allein bedienen. Doch jeder noch so kleine Ausflug wird zur logistischen Höchstleistung. Jeder Tag ist mit Pflegern und Therapeuten minuziös durchgeplant. Nach schulmedizinischer Auffassung, sagt Broicher, sei sein Rückenmark vollständig durchtrennt. Ohne Aussicht auf Besserung. „Doch ich arbeite hart daran, glaube fest daran und bete dafür, dass ich mit positivem Denken und Training noch mehr Fähigkeiten reaktiveren kann.“ So sei etwa bei seiner Rumpf- und Bauchmuskulatur wieder etwas Aktivität gemessen worden.
Seine Praxis in Mülheim musste er schweren Herzens verkaufen. Das Klingelschild lehnt auf einem Regal neben seinem Lieblingsmutmachspruch: „Der Dom steht, der Rhein lebt, alles wird gut.“ Sein großes Ziel ist es, „aus diesem Stuhl wieder aufzustehen“ und seine Frau anzutanzen, wie er zuletzt träumte. Und so findet Karneval dieses Jahr natürlich nicht ohne ihn statt. Ein bis zwei Sitzungen der Ehrengarde und eine der KG Uhu will er besuchen. „Und das nächste Kinderkostümfest organisier’ ich wieder mit.“
Der Kalender „Mundgemalt 2015“ kostet 19,95 Euro, wird Mitte nächster Woche geliefert und kann vorbestellt werden unter 0221/567 99 303 , im Servicecenter Breite Straße 72 sowie unter: www.ksta.de/shop