„Sie machten einfach alles kaputt“Holocaust-Überlebende berichtet vom Horror der Pogromnacht in Köln

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Linkes Foto: Historische Fotos des zerstörten Innenraums der Synagoge. Verbrannte Holzbalken liegen auf dem Boden. Rechts Foto: Gebäude im Stil der Gründerzeit, vor den Fassaden wehen Hakenkreuz-Fahnen.

Die zerstörte Synagoge in der Glockengasse nach dem Novemberprogrom 1938 und ein Blick auf den Ursulaplatz in der Kölner Altstadt in den 1930er Jahren zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Straßenansicht wurde mithilfe von KI-Algorithmen nachträglich koloriert.

In der Nacht auf den 10. November 1938 zerstörten Nazis Synagogen, jüdische Geschäfte und töteten Jüdinnen und Juden.

Es gibt nur noch wenige deutsche Wörter, die Hilde Khnie akzentfrei aussprechen kann. „Reichskristallnacht“ ist eines davon. „Reichskristallnacht“, die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als Männer in braunen Uniformen die Eingangstür ihres Elternhauses in der Kölner Benesisstraße 38 aufbrachen und alles zerstörten, was ihnen in die Hände fiel. Die Möbel. Die Bücher. Die Bilder. Das „gute“ Geschirr.

„Sie machten einfach alles kaputt“, erzählt Hilde Khnie 2020 in einem Telefoninterview mit der Autorin. Seit 1946 lebt die Kölner Holocaust-Überlebende in den USA. Doch vergessen, beteuert sie, habe sie nichts von den Vorfällen während der Reichspogromnacht, die sie bis heute „Reichskristallnacht“ nennt.

Ein schwarz weiß Bild zeigt den Innenraum der Synagoge mit dem Toraschrein.

Der Innenraum der Synagoge in der Glockengasse nach dem Novemberpogrom 1938. Rund um den Toraschrein liegen verbannte Holzbalken und -bretter.

„Meine Mutter Saare, meine Schwester Erna, meine beiden Brüder und ich saßen im Mädchenzimmer im ersten Stock, als die Männer die Treppe heraufkamen“, schildert sie die Geschehnisse. Sogar das Goldfischglas im Mädchenzimmer hätten sie zu Boden geworfen. „Überall lagen Goldfische herum und zappelten.“ Den Rest der Nacht verbrachten Hilde Khnie und die Ihren bei Bekannten, die verschont geblieben waren von dem Wüten des braunen Mobs. Das Haus in der Benesisstraße war nach dem Überfall unbewohnbar, auch das Herrenmodegeschäft des Vaters im Erdgeschoss war verwüstet. Aus dem zerstörten Schaufenster der jüdischen Buchhandlung Wolf Topilowski auf der gegenüberliegenden Straßenseite flogen Bücher und Zeitschriften auf die Straße.

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Gestapo: Aktionen gegen Juden seien „nicht zu stören“

Nicht nur Köln, das gesamte Deutsche Reich versank in der Pogromnacht vor 85 Jahren im Chaos einer antisemitischen Großaktion, getarnt als Ausdruck „spontaner judenfeindlicher Kundgebungen“, wie es am 10. November 1938 in der Berichterstattung des NS-Hetzblattes „Westdeutscher Beobachter“ hieß. Sie war vorbereitet worden durch eine sich stetig verschärfende antijüdische Politik des NS-Regimes, die 1933 ihren Anfang genommen hatte.

Bereits im Oktober 1938 waren im Zuge der sogenannten „Polenaktion“ tausende polnisch-stämmige Juden nach Polen abgeschoben worden – eine Willkürmaßnahme, der auch Hilde Khnies Vater Benzion Heimreich zum Opfer gefallen war. Und die unmittelbar verknüpft ist mit den Geschehnissen vom 9. und 10. November.

Kombination zweier Fotos. Links eine Chromolithographie mit dem aufwendig verzierten Innenraum der Synagoge in der Glockengasse. Die Decke ist blau gestrichen, zahlreiche Flächen sind golden verziert. Rechts eine fotografische Schwarz-Weiß-Aufnahme, die den zerstörten Innenraum mit dem Toraschrein zeigt.

Die links abgebildete Chromolithographie entstand um 1861 durchJoseph Hoegg (nach einem Aquarell von Carl Emanuel Conrad) und zeigt den aufwendig verzierten Innenraum der Synagoge in der Glockengasse. Rechts eine fotografische Aufnahme aus dem November 1938 nach den Zerstörungen in der Reichspogromnacht.

Unter den Abgeschobenen war auch die Familie von Herschel Grünspan, der zu dem Zeitpunkt bei Verwandten in Paris wohnte. Am 7. November schoss der 17-Jährige auf den Generalsekretär der deutschen Botschaft in Frankreich, Ernst von Rath und verletzte ihn schwer. Zwei Tage später, in den späten Nachmittagsstunden des 9. November, starb der Diplomat an den Folgen des Attentats.

Ein historisches Bild des Ursulaplatzes.

Köln in den 1930er-Jahren: Das von uns nachträglich mithilfe von KI-Algorithmen kolorierte Foto zeigt die Gebäude am Ursulaplatz mit Blick auf die Kirche St. Ursula und wurde vom Fotografen Jakob Volk aufgenommen.

Fünf Minuten vor Mitternacht desselben Tages informierte der Leiter des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin die Dienststellen der Geheimen Staatspolizei darüber, dass „in kürzester Frist in ganz Deutschland Aktionen gegen Juden insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden“. Diese Aktionen seien „nicht zu stören“. Auch die Kölner Gestapoleitstelle im EL-DE-Haus erhielt ein entsprechendes Fernschreiben, freilich mit einem kleinen Zusatz: „In der Synagoge Köln befindet sich besonders wichtiges Material. Dies ist durch schnellste Maßnahme ins Benehmen zu setzen.“ Wenig später flogen in den Städten und Dörfern des Deutschen Reiches die ersten Steine und Brandfackeln in Synagogen und jüdische Geschäfte.

Drei Synagogen brannten in Köln nieder

Mehr als 1400 Gotteshäuser, etwa 7500 jüdische Geschäfte und knapp 200 Wohnhäuser wurden bis in die Mittagsstunden des 10. November von den NS-Schergen und ihren Mitläufern mit staatlicher Billigung zerstört, rund 20.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. In Köln brannten die Synagogen in der Roonstraße, in der Glockengasse und in der Körnerstraße in Ehrenfeld aus. Das Gotteshaus in der St. Apern-Straße wurde ebenso verwüstet wie zwei Synagogen in Mülheim und Deutz.

Die Straßen der Stadt waren übersät mit zerborstenen Möbeln und den Scherben eingeworfener Schaufensterscheiben. Wie hoch die Schäden genau waren, lässt sich bis heute nicht beziffern. Strafen mussten die Täter nicht befürchten. Die in der vergangenen Nacht durchgeführten Aktionen gegen Juden seien staatlicherseits gebilligt, in Haft genommene Täter sofort wieder auf freien Fuß zu setzen, heißt es in einem Aktenvermerk der Staatspolizeistelle Köln vom 10. November.

Eine Schwarz-weiß-Aufnahme zeigt den Blick in die Glockengasse mit der Synagoge.

Die Aufnahme von 1896 zeigt eine Außenansicht der Synagoge in der Glockengasse. Gut zu erkennen ist die große Kuppel des Bauwerks, die zunächst mit glänzenden Kupferplatten verkleidet war. Die kompletten Baukosten trug der Bankier Abraham Freiherr von Oppenheim.

Auch im Umland kam es zu heftigen antisemitischen Ausschreitungen. So wurde in Lommersum, einem Dorf mit nur noch vier jüdischen Familien, das Kaufhaus von Wilhelm Kain geplündert, er selbst wurde von der Polizei „in Sicherheit“ gebracht. Im nahen Euskirchen wie in vielen andern Städten und Dörfern brannte die Synagoge. Ein Foto, aufgenommen am Nachmittag des 10. November, zeigt eine Torarolle, die von der Balustrade herunterhängt. In Siegburg, Troisdorf, Königswinter, Eitorf und Rosbach seien in einer Reihe von jüdischen Geschäften die Schaufensterscheiben eingeschlagen, meldete der Landrat in Siegburg. Der Sachschaden betrage schätzungsweise 20.000 Reichsmark. „Eigentum deutschblütiger Volksgenossen ist nicht in Mitleidenschaft gezogen.“

Überlebende der Pogromnacht begingen Selbstmord

Es kam nicht nur zu Sachschäden in diesen Schreckensstunden: Rund 1300 Tote zählen die Historiker nach jüngsten Forschungen im gesamten Reichsgebiet.  91 waren es nach den Angaben der NS-Behörden. Allein auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes NRW kamen laut einer Studie der Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf 131 Jüdinnen und Juden infolge des Novemberpogroms zu Tode.

Eine metallene Tafel ist in eine Wand eingelassen. Auf ihr steht neben kleinerer Schrift der Text „Adass Jeschurun \ Gemeinde der Gerechten“.

An die Synagoge in der Glockengasse erinnert heute eine Gedenktafel. Auf dem Gelände steht heute das Schauspielhaus.

Mehr als 30 von ihnen starben in den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen oder nach ihrer Entlassung an den Folgen der Haft. 41 begingen Selbstmord, darunter Klara Wolff, geborene Kaufmann, aus Köln. Die 71-Jährige starb am 12. November 1938 durch eine Überdosis Schlafmittel im Israelitischen Asyl für Kranke und Altersschwache in Ehrenfeld. Dort erlag eine Woche später auch Moritz Spiro aus Deutz seinen Verletzungen. Der Friseur war am 10. November niedergeschlagen und schwer verletzt worden, als er versucht hatte, seinen Salon gegen zwei Eindringlinge zu verteidigen. Berta Herz aus Lindenthal wählte am 3. Dezember den Freitod durch Schlaftabletten. Der Kölner Kaufmann Gustav Solinger starb am 24. Dezember angeblich an Herzkreislaufschwäche im KZ Dachau, in das man den 43-Jährigen nach dem Pogrom verschleppt hatte.

Hilde Khnie überlebte mehrere Konzentrationslager

Erst ein Aufruf von Reichsminister Joseph Goebbels zur Beendigung des Pogroms am 10. November beendete die Ausschreitungen. „Es ergeht nunmehr an die gesamte Bevölkerung die strenge Aufforderung, von allen weiteren Demonstrationen und Aktionen gegen das Judentum, gleich gültig welcher Art, sofort abzusehen.“ Die endgültige Antwort auf das jüdische Attentat in Paris werde auf dem Wege der Gesetzgebung bzw. der Verordnung dem Judentum erteilt werden.

Hilde Khnie und ihre Geschwister verließen Deutschland wenige Tage nach der Pogromnacht. Ihre Mutter schickte sie zu Verwandten nach Belgien. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Belgien 1940 kehrt die 15-Jährige zurück nach Köln und wurde 1941 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in das Ghetto Litzmannstadt deportiert. Hilde Khnie und ihre Mutter überlebten mehrere Konzentrationslager und emigrierten 1946 in die USA. Heute lebt sie in New York. Ihre Schwester Erna wurde 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet.

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