Lena Falk lebt mit einer Fetalen Alkoholspektrumstörung – einer unsichtbaren Behinderung, die ihr ganzes Leben prägt. Ein Porträt über Wut, Struktur und die Suche nach einem Platz.
Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft„Ich kann das nicht wegtherapieren“

Die Beziehung von Andrea Falk zu ihrer Adoptivtochter Lena Falk war nicht immer einfach. Eine Entlastung hat Falks Diagnose gebracht.
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In der Schule war Lena Falk immer die Außenseiterin. Die Jungen prügelten sich mit ihr, die Mädchen lästerten. „Ich war einfach anders“, sagt die 25-jährige Kölnerin heute. „Ich weiß bis heute nicht, wo ich hineinpasse.“ Auf dem Schulhof flogen Fäuste, in der Klasse Blicke. Ihr Lieblingsort war ihr Zimmer – der einzige Ort, an dem sie niemand störte.
Auf die weiterführende Schule ist sie nur gegangen, weil zu Hause jemand auf sie wartete: Lilly, ihre Katze. „Ich wollte damals nicht mehr in die Schule. Ich hatte mich aufgegeben. Ich wollte nicht mehr weiterleben.“ Lilly sei ihr Anreiz gewesen, weiterzumachen. Lena Falk heißt eigentlich anders. Die Namen sind der Redaktion bekannt.
Wenn sie wütend wurde, lief sie davon – immer. Und kam wieder. „Ich konnte nicht verstehen, warum alle anderen das schaffen: aufstehen, sich anziehen, jeden Tag Zähne putzen.“ Manche hielten sie für faul, die Eltern mussten sich anhören, sie sei verzogen. Sie hofften, das verwachse sich noch. Doch das tat es nicht.
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Lena Falk hat FASD – die Fetale Alkoholspektrumstörung. Eine bleibende Hirnschädigung, die entsteht, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol trinkt. In Deutschland werden jährlich rund 12.000 Kinder mit FASD geboren. Betroffen sind schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung – doch die Dunkelziffer ist hoch.
Lena kam mit 15 Monaten als Pflegekind zu Andrea Falk und ihrem Mann Ernst. Viele Jahre lang suchten sie nach einer Erklärung: ADHS, Entwicklungsverzögerung– viele Diagnosen, keine passte. Sie ging zur Logopädie, Ergotherapie, Psychotherapie. Erst 2017 kam die Gewissheit: FASD.
Wut und Erleichterung
„Wir wollten bis dahin auch nicht so genau hinsehen. Der Traum, dass unsere Tochter ein normales Leben führen kann, war ausgeträumt“, sagt Andrea Falk. Ihre Adoptivtochter war zunächst traurig, aber auch erleichtert: „Endlich wusste ich, warum ich so bin.“
Früher flogen bei den Falks schon mal Teller. Oder Messer. „Wenn ich wütend werde, ist das wie ein Rausch“, erzählt Lena Falk. „Ich stecke mittendrin und komme allein nicht mehr raus.“ Erst hinterher realisiere sie, was passiert ist. Heute sei vieles anders. „Ich merke eher, wann ich überfordert bin.“ Auch ihre Mutter habe gelernt, loszulassen.
Für Außenstehende wirkt Falk wie eine junge Frau mitten im Leben. Sie hat Tattoos, geht ins Fitnessstudio, verbringt gerne Zeit mit ihrem Partner und ihrer Katze. Doch Überforderung und Wut liegen bei ihr nah beieinander. „Manchmal ist sie wie fünf, manchmal wie 25“, sagt ihre Adoptivmutter. Oft sei das eine Gratwanderung. Sie müsse sie allein handeln lassen, aber dann doch wieder da sein, wenn sie aufgefangen werden müsse.
Zu viel Druck, zu viele Reize – und Falk verliert das Gleichgewicht: ein kaputtes Gerät, eine verpasste Bahn, ein verschobener Termin – und der Tag kippt. „Neulich bin ich auf dem Weg zum Fitnessstudio zweimal vom Rad gefallen“, erzählt sie. „Danach war der Tag für mich gelaufen.“
Eine unsichtbare Behinderung
Henrike Schecke, Psychotherapeutin an der LVR-Klinik Essen, erklärt: „FASD betrifft vor allem die exekutiven Funktionen – also Handlungsplanung, Impulskontrolle, Organisation. Diese Einschränkungen bleiben lebenslang.“ Sie leitet die bundesweit größte FASD-Sprechstunde für Erwachsene. Eine Intelligenzminderung müsse dabei nicht vorliegen – das mache den Hilfebedarf schwer erkennbar. Einen eindeutigen Nachweis gibt es nicht. Nur direkt nach der Geburt kann Alkoholbelastung im sogenannten Mekonium, dem ersten Stuhl des Neugeborenen, festgestellt werden – doch das Zeitfenster ist winzig.

Dr. Henrike Schecke leitet die bundesweit größte FASD-Sprechstunde für Erwachsene.
Copyright: Schecke
Die Diagnostik stützt sich auf vier Säulen. Ein zentraler Hinweis ist, ob die Mutter während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert hat. Das könne über medizinische Unterlagen, über Angehörige oder durch die Mutter selbst bestätigt werden. Auch alte Kinderfotos spielen eine wichtige Rolle, so auch im Fall von Falk: Viele Betroffene zeigen im frühen Alter typische äußerliche Merkmale, etwa eine besonders schmale Oberlippe, kurze Lidspalten oder ein insgesamt verzögertes Wachstum. Da sich diese Auffälligkeiten später oft verwachsen, können frühe Aufnahmen entscheidend sein. Auch Auffälligkeiten des zentralen Nervensystems können Hinweise geben, etwa in Form von Problemen mit Gedächtnis, Aufmerksamkeit oder Intelligenz.
Häufig wird FASD eher bei Menschen erkannt, die in Pflegefamilien aufgewachsen sind. Dort sei die Schamgrenze geringer, und die Familien seien oft schon mit Hilfesystemen vertraut.
FASD sei aber keine Einzelfrage von Schuld, sondern Ausdruck einer Gesellschaft, in der es schwer sei, nicht zu trinken, so Schecke. Einige Frauen haben nichts von der Schwangerschaft gewusst, seien womöglich alkoholabhängig gewesen. „Deutschland ist ein Hochkonsumland für Alkohol. Jede und jeder trinkt im Schnitt zehn Liter reinen Alkohol im Jahr. Frauen holen auf.“ Es gebe keine unkritische Menge an Alkohol: „Nur null Promille ist null Risiko.“
Für viele Frauen sei es schwierig, überhaupt Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mit dem Thema gehe ein enormes Maß an Stigmatisierung einher. Wenn Frauen befürchten müssten, beschämt oder verurteilt zu werden, sei die Hürde riesig, sich jemandem anzuvertrauen, geschweige denn frühzeitig Unterstützung für das Kind zu suchen.
Flammkuchen im Erziehungsbüro
Lena Falk lebt heute in einer eigenen Wohnung, unterstützt durch ambulant betreutes Wohnen. Eine Sozialpädagogin hilft beim Planen, Sortieren, Durchatmen. Nach der Arbeit brauche Falk Ruhe. „Ich bin dann platt. Freunde treffen ist mir zu anstrengend.“ Soziale Kontakte sind für sie kompliziert. „Früher war ich nie eingeladen. Erst, wenn Mama das eingefädelt hat.“ Heute ist das anders – zumindest ein bisschen.
Einmal im Monat leitet sie gemeinsam mit Bodo Albert vom Erziehungsbüro Rheinland mit Sitz in Köln einen offenen Treff für junge Erwachsene mit FASD. An einem Donnerstagabend Anfang November riecht es in den Räumen des Erziehungsbüros nach Flammkuchen – Speck, Ziegenkäse, Walnüsse. Acht junge Menschen sitzen am langen Tisch, reden über ihren Alltag, kleine Siege und große Überforderungen.
„Wer kommen will, kommt. Wer nicht, nicht“, sagt Albert. Das Angebot gibt es seit zwei Jahren, etwa 25 Leute stehen im E-Mail-Verteiler. Manche fahren zwei Stunden, nur um dabei zu sein.
Lena Falk zieht ein Blech aus dem Ofen. Sie lacht, bringt Stimmung in die Runde. „Ich bin hier so eine Art Mutti“, sagt sie. Sie ist eine der älteren in der Gruppe. Ihr mache es Hoffnung, dass viele der Teilnehmer schon wesentlich früher als sie inzwischen diagnostiziert werden.
Forschung mit Lücken
Kinder mit FASD werden heute häufiger erkannt – Erwachsene dagegen fast nie. „Für Erwachsene gibt es bis heute keine evidenzbasierte Leitlinie“, sagt Henrike Schecke. Die Nachfrage ist groß, die Warteliste für die Sprechstunde für Erwachsene mit FASD lang.
Therapieangebote für Erwachsene seien rar. „Man kann Impulskontrolle oder Aufmerksamkeit trainieren, aber das Gehirn ist irreversibel geschädigt“, erklärt Schecke. Entscheidend sei das Umfeld – Strukturen, die Halt geben, ähnlich wie bei Menschen im Autismus-Spektrum.
Auch beim Übergang ins Berufsleben zeigen sich die Grenzen des Systems. „Ein Schulabschluss wird häufig noch erreicht“, erklärt Schecke. „Aber die Integration in den Arbeitsmarkt gelingt selten. Viele sind zu fit für Werkstätten, aber für reguläre Arbeitsverhältnisse fehlen ihnen die nötigen Strukturen und das Verständnis der Arbeitgeber.“
Heute arbeitet Lena Falk in einer Werkstatt für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen – der erste Ort, an dem sie sich sicher fühlt. Zuvor hatte sie zwei Jahre in einer normalen Schreinerei gearbeitet, dort hatte sie einen betriebsintegrierten Arbeitsplatz inne. So ein Arbeitsplatz bietet Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit, am regulären Arbeitsmarkt teilzunehmen. „Das war zu anstrengend“, sagt sie. „In der freien Wirtschaft bist du immer die Behinderte. Hier werde ich dafür anerkannt, dass ich schon auf dem ersten Arbeitsmarkt war.“
Wenn Falk über ihre Zukunft spricht, klingt sie klar: „Ich will einfach irgendwo ankommen“, sagt sie. „Eine Arbeit, die bleibt. Eine Wohnung, in der ich bleiben kann. Und vielleicht irgendwann eine Katze, die bei mir bleibt.“ Andrea Falk nickt. „Vielleicht findet sich ja mal eine kleine Schreinerei, die sie nimmt.“
Lena Falk weiß, dass FASD bleibt: „Ich kann das nicht wegtherapieren. Aber ich kann lernen, damit zu leben.“ Sie merke heute viel eher, wenn es zu viel wird. „Früher wäre ich dann einfach explodiert.“

