Abo

Kölner Shoah-ÜberlebendeFrau Nussbächer (97) schwor sich nach dem Krieg, nie eigene Kinder in die Welt zu setzen

Lesezeit 6 Minuten
Detailaufnahme der Hand von Anna Nussbächer (97), die den Holocaust überlebt hat. Der Ring stammt von ihrer Mutter.

Anna Nussbächer ist 97 und hat den Holocaust überlebt. Der Ring stammt von ihrer Mutter.

Die 97-jährige Kölnerin Anna Nussbächer liebt Kinder – und hat sich nach dem Krieg geschworen, nie eigene Kinder in die Welt zu setzen. 

Zum Abschied sagt sie, sie wolle meinen Töchtern etwas schenken, bemalte Teller oder eine Vase, ich solle mir etwas aussuchen, sie bestehe darauf. „Ich liebe Kinder“, sagt Anna Nussbächer. Ihre hellen Augen leuchten, wie sie den ganzen Vormittag geleuchtet haben. „Wollen Sie noch ein Glas Champagner trinken mit mir?“

Anna Nussbächer ist 97. Sie hat den Holocaust überlebt und sich danach geschworen, niemals eigene Kinder auf die Welt zu setzen. Sie liebt Champagner und Zigaretten, Bücher, die Tageszeitung und wenige Menschen wie ihre Nachbarin, die sich um sie kümmert, oder ihre Pflegerin. Das Leben hat sie lange gehasst. Und mag es manchmal doch.

Mit ihren Schülern fuhr sie nach Dachau – und verschwieg, dass sie selbst deportiert worden war

„Sie liebt Kinder wirklich über alles“, sagt Flori, ihre Pflegerin, und holt eine Vase von der Wand. „Als Lehrerin am Gymnasium war ich immer sehr beliebt bei den Schülern, die haben mich geliebt“, hatte Anna Nussbächer eben erzählt. Warum das so war? „Ich war anders als die anderen Lehrer.“ Was das heiße? „Ich hatte Humor, und habe auch so unterrichtet. Die Kinder sollten doch lachen!“

27 Jahre hat sie an einem bayerischen Gymnasium unterrichtet. Nussbächer fuhr mit den Jugendlichen jedes Jahr in die KZ-Gedenkstätte nach Dachau, wo ihr Vater zwei Tage vor Kriegsende von den Deutschen erschossen worden war. Dass sie Jüdin war und selbst deportiert worden war, erzählte sie den Schülern nie. Auch die Geschichte mit ihrem Vater ließ sie aus.

Nach dem Krieg die Entscheidung: keine eigenen Kinder, nie.  „Weil die Menschen sich nicht ändern. Ich wollte ihnen den Antisemitismus ersparen, der bis heute grassiert“, sagt sie, zieht an ihrer Eve-120-Zigarette, ascht ab, schaut aus aufmerksamen Augen auf. „Sie raucht wahnsinnig viel“, sagt Flori. „Manchmal die ganze Nacht über. Und sie schluckt nicht eine Tablette.“

„Ich bin im Krieg zur Atheistin geworden“, sagt Anna Nussbächer. „Inzwischen glaube ich doch, dass es einen Gott eben muss. Einen Gott, der nicht will, dass ich sterbe. Dabei tue ich nichts, um so lange zu leben. Gar nichts. Ich habe nie etwas dafür gemacht. Im Gegenteil.“ Sie gluckst in sich hinein.

Dreimal habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Das erste Mal mit 28. „Warum wurde ich zum Leben verurteilt?“ hat sie ihre als Buch erschienen Erinnerungen genannt. Lange habe sie es nicht als Glück empfinden können, den Holocaust überlebt zu haben, sagt sie. Und spricht im nächsten Atemzug davon, wie viel Glück sie gehabt habe im Leben.

Das blöde Alter. Vor zwei Jahren hätten Sie kommen müssen! Da ging im Kopf noch alles schnell!
Anna Nussbächer (97)

Ihre Kindheit in einer Kleinstadt in Siebenbürgen sei „unbeschwert und voller Liebe“ gewesen. Ihre Großeltern: „Die besten Menschen, die es geben konnte. Menschenfreunde, wie es sie selten gibt.“ Sie raucht, ascht ab. Erzählt. Manchmal klar, manchmal stockend. Die Augen: durchscheinend, kindlich. „Das blöde Alter. Vor zwei Jahren hätten Sie kommen müssen! Da ging im Kopf noch alles schnell!“

Auf dem Küchentisch liegt der „Kölner Stadt-Anzeiger“, sie liest die Zeitung jeden Morgen. Auf dem Wohnzimmertisch Bücher: Arthur Koestler, Georg Kreisler, Arundhati Roy. Im Regal unter anderem die gesammelten Werke von Simone de Beauvoir auf Französisch. „Natürlich lese ich, auf Deutsch, Französisch, Ungarisch, Rumänisch“, sagt sie. Natürlich.

Als sie zwölf war, zog ihre Familie nach Klausenburg um, mit 14 wurde sie deportiert. Mit ihren Eltern und ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Zolti kam sie im Juli 1944 nach Auschwitz. Vater und Bruder sah sie nie wieder. Mit der Mutter wurde sie weiter gezwungen in das KZ Plaszow bei Krakau.

Für die Nazis war Anna Nussbächer die Nummer 23727 

Von dort kamen sie im Oktober 1944 nach Leipzig, wo sie zwangsweise für den Rüstungsbetrieb „Hugo und Alfred Schneider AG“ arbeiten mussten. Als die amerikanischen Truppen im März 1945 vor Leipzig standen, lösten die Deutschen das Lager auf und schickten die Zwangsarbeiter auf einen Todesmarsch. Anna Nussbächer und ihre Mutter gehörten zu den Wenigen, die überlebten.

Die 97-Jährige zeigt eine hell schimmernde Narbe auf ihrem linken Unterarm. „Da war die Nummer.“ 1944 in Auschwitz in die Haut tätowiert. Anna Nussbächer war für die Nazis die Nummer 23727. Als eine Schülerin sie nach dem Krieg in Rumänien gefragt habe, ob das eine Telefonnummer sei, „bin ich weinend nach Hause gelaufen und habe sie wegmachen lassen“. Sie streicht mit dem rechten Zeigefinger über die Narbe, und nimmt die Zigarette aus dem Aschenbecher. „Flori, gibst du mir nochmal Feuer?“

Nussbächer spricht lieber über das Gute. Ihren Stiefvater, „einen der besten Menschen der Welt, der immer alles abgegeben hat, was er hatte, das habe ich von ihm“. Ihre Großeltern, mütterlicherseits, die sie verwöhnten, „ich war ihr liebstes von fünf Enkelkindern. So viel Liebe haben sie mir mitgegeben, dass bis heute etwas übrig ist“. Ihr zweiter Mann – „ein Schatz“. Sie spricht über Reisen in die ganze Welt, Frankreich kenne sie besser als Deutschland, in Neuseeland war sie und Australien, den USA, Südamerika, Afrika, überall. „Ich bin eine Reisende, eine reisende Jüdin“, sagt sie.

Menschen sind voller Fehler, sie sind anfällig für das Böse
Anna Nussbächer (97)

Und über Kinder spricht sie, vor fünf oder sechs Jahren war eine ganze Klasse in ihrer Wohnung im Kölner Süden, „vor meinem Sofa, sie haben Fragen gestellt, ich habe geantwortet. Ich liebe Kinder“. Erwachsene mag sie eher selten. „Menschen sind voller Fehler, sie sind anfällig für das Böse“, den Satz sagt sie immer wieder. „Das war früher so und ist so geblieben. Und die Juden sind keine besseren Menschen.“ Ob sie die Deutschen gehasst habe? „Nicht die Deutschen. Die Nazis.“

Sie fragt, ob ich nicht etwas trinken wolle oder essen. „Jetzt Champagner vielleicht?“ Erzählt von einer Spende für ukrainische Kinder. Ihr Prinzip sei es, „alles abzugeben, was ich selbst nicht brauche. Das war es immer“. Bevor sie ins Ghetto deportiert wurde, hätte Anna Nussbächer zwei Möglichkeiten zur Rettung gehabt: Ihr Vater kannte den Schweizer Konsul in Klausenburg, dessen Familie hätte sie mitgenommen in die Schweiz. Mit der Tochter eines Geschäftspartners des Vaters hätte sie in die Berge fliehen können. Sie hätte es „als Verrat empfunden, wenn ich nicht mit allem, was kam, mit meiner Familie solidarisch gewesen wäre“, schreibt sie in ihrem Buch. „Ich bin im Reinen mit dem, was ich gemacht habe“, sagt sie am Wohnzimmertisch.

Nach Deutschland kam Anna Nussbächer, verheiratete Bartmann,  1967, da ihr zweiter Mann Richard, als Siebenbürger Sachse Deutscher, in Israel nicht willkommen war. Nach dem Krieg war sie zunächst in Rumänien. Lange lebte sie in Bayern. Vor 28 Jahren kam sie – für den Ruhestand – nach Köln. „Wegen der Nähe zu Frankreich, Belgien und Holland.“ Zu Hause sei sie hier, inmitten der Bilder, Möbel, Erinnerungsstücke, die sie von ihren Reisen und Wohnorten mitgebracht hat, heimisch nicht. „Eine Heimat hatte ich nie.“

KStA abonnieren