„Sei bloß niemals perfekt“Kölner Mütter und Väter schreiben Briefe an ihre Töchter

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  • Am Montag ist Weltfrauentag – Wir haben lange diskutiert, ob es noch zeitgemäß ist, ihn zu erwähnen. Denn schließlich sollten Frauen wie Männer jeden Tag die Möglichkeit haben, sich frei und gleichberechtigt zu entfalten.
  • Damit das in Zukunft gelingen kann, haben wir Briefe an unsere Töchter geschrieben. Mit ein paar Ratschlägen und Wünschen. Aber vor allem mit all unseren Hoffnungen und ganz viel Liebe.

Köln – Liebste Tochter, es ist jetzt genau sechzehneinhalb Jahre her: Erziehungsgeld gab es 450 Euro pro Monat für die Dauer eines Jahres, knapp fünf Prozent der Väter nahmen mindestens einen Monat Erziehungszeit, arbeitende Kleinkindmütter galten im besten Fall als exotisch, der „Stern“ fragte in seiner Titelgeschichte, ob eine Frau „Kanzler“ werden könne, ich war 25 Jahre alt, sehr naiv, aber glücklicherweise auch wahnsinnig stur und ein Mädchen wurde geboren, das für mich seither jede Anstrengung im Ringen um eine gerechte und gleichberechtigte Zukunft wert ist: Du.

Als ich so alt war wie Du, dachte ich blauäugig: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Na ja. Zumindest war ich optimistisch, alles erreichen zu können, wenn ich mich nur sehr anstrengte. So wurde ich erzogen, von Deiner Oma, aber mehr noch von Deinem Opa, der als typischer Mädchen-Papa in seinen mittleren Jahren plötzlich so etwas wie feministische Anwandlungen bekam und seine Töchter anfeuerte, immer ihr Bestes zu geben, fleißig zu sein und niemals aufzugeben.

Ich strengte mich also an. Ich versuchte, der Welt mit ihren von Männern gemachten Regeln zu entsprechen. Ich nahm mir vor, niemals aufzugeben. Und dann wuchst Du in meinem Bauch, und ich sollte mich plötzlich entscheiden. Kind oder engagiert im Beruf. Beides – so schien es – sei für Frauen nicht wirklich vorgesehen. Es ging dann natürlich doch. Irgendwie. Und so warst Du schon als Baby oft mit auf Recherche. Ich hab Dich bei Interviews gestillt. Du wurdest von Politikern, Wirten, Hausbesetzern oder Klimaschützern bespaßt. Bist bei Podiumsdiskussionen auf dem Boden gekrabbelt. Das war schön. Und es klingt nach einem Erfolg.

Claudia Lehnen

Claudia Lehnen

Aber irgendwie war es auch sehr anstrengend. Ich hatte ein schrecklich schlechtes Gewissen. Bei jedem Sonntagsdienst, bei jeder Schicht, die länger dauerte, als die Kita geöffnet hatte (und das waren die meisten). Als Du deine ersten Schritte trippeltest, berichtete mir Deine Babysitterin davon. Ich hab versucht, das nicht so eng zu sehen. Und dann doch heimlich geheult.

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Wenn ich Dich heute betrachte, dann gibst Du mir allen Grund zu hoffen, dass sich die Zeiten für Frauen weiter verbessern. Der Gedanke, Dich mehr anstrengen zu müssen als Deine Brüder, um das Gleiche zu erreichen, ist Dir Gott sei Dank fremd. Dafür chillst du viel zu gern. Und das ist gut. Und wenn Dir später jemand sagt, dass Dir die Hälfte der Macht zusteht, Du aber 150 Prozent dafür geben musst, dann guck ihn genau so an wie heute mich, wenn ich Dir sage, dass du Dein Zimmer aufräumen sollst. Und dann erledige genau die Hälfte der Arbeit. Und zwar auf Deine Weise. Weil Du nur Neues erschaffen kannst, wenn Du aufhörst, dauernd Anforderungen anderer zu erfüllen. Und denk bloß niemals, Du müsstest perfekt sein. Du bist ja schon wild und chaotisch und großartig. Und die beste Tochter, die wir haben könnten. Und das ist viel mehr.

Claudia Lehnen, Ressortleiterin NRW & Story

Ein Tag im Jahr löst keine Probleme

Liebste Tochter,

wenn dich dein Papa am Nachmittag von der Betreuung abholt, fragst du nach mir, nach deiner Mama. Nicht weil ich wichtiger wäre, sondern weil du immer nach dem Elternteil fragst, der gerade nicht da ist – weil er arbeiten muss, anderen Erwachsenen-Kram erledigt und oder eine Auszeit braucht. Auch andere Leute fragen deinen Papa nach mir, wenn er alleine mit dir unterwegs ist. Sie bemitleiden dich und klopfen ihm anerkennend auf die Schulter. Toller Mann!

Ich wünsche mir, dass du verstehst und erkennst, dass das alte Rollenbilder sind, denen du nicht folgen musst und deren immer noch tiefe Verankerung im Denken unserer Gesellschaft keine Berechtigung hat. Ich wünsche mir, dass du für Gleichberechtigung und Chancengleichheit in allen Lebensbereichen kämpfst – nicht nur für Frauen, sondern für alle Menschen. Und nicht nur am 8. März, sondern stetig. Ein Tag im Jahr einem Geschlecht zu widmen, löst nicht das große Problem der Ungleichberechtigung – er vergrößert es eher.

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Swende Stratmann

Ich wünsche mir, dass du dich in deinen Lebensvorstellungen und Träumen nicht an gesellschaftlichen Schablonen orientierst, dich von ihnen beeinflussen oder beirren lässt. Du bist weder das starke, noch das schwache Geschlecht, du bist nicht die Frau im Männerberuf, du bist nicht die erfolgreiche Karriere- oder Powerfrau, die in Zeitungsartikeln noch immer gefeiert wird und deren männliches Pendant nie so bezeichnet werden würde.

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Und wenn du diese Zeilen lesen und verstehen kannst, bist du hoffentlich ein Mensch, der in einer Zeit lebt, in der er alles sein kann und darf was er will, in der auch der Letzte verstanden hat, dass Glückwünsche und Blumen zum Frauentag unpassend sind und in der solche Briefe nicht mehr geschrieben werden müssen, weil all das, worum es hier geht, längst der Vergangenheit angehört.

Swende Stratmann, Head of Digital Köln

Lass Dir nie vorschreiben, was Du „als Frau“ zu tun und zu lassen hast!

Liebste Luzia,

gerade bist Du 17 geworden. Mitten in der Pandemie schreibst Du an Deiner Facharbeit. Du hast Dir Michelle Obama und ihre Bedeutung für den Feminismus in den USA ausgesucht. Bewundernd hast Du mir davon erzählt, wie sie sich als schwarze Arbeitertochter durchgekämpft, in Harvard Jura studiert und einfach (oder eben auch nicht einfach) „ihr Ding“ gemacht hat. Ich habe das Gefühl, das imponiert Dir fast mehr als die acht Jahre im Weißen Haus. Und ich glaube, ich weiß auch, wieso: First Lady zu werden, das ist nur ein wahr gewordenes Märchen. Nichts für ein kölsch Mädchen. Oder täusche ich mich da?

Aber dass es wichtig ist, Ziele zu verfolgen, das gilt nicht nur für eine Michelle Obama. Manchmal denke ich: Du hast es gut. Und dass Du das auch weißt. Journalistentochter aus Nippes, wo es sich gut leben und lernen lässt. Einigermaßen nette Eltern (sagst Du jedenfalls) und ein Freundeskreis, auf den Verlass ist.

Joachim Frank Kommentar

Joachim Frank

Wenn Du Dich nach dem Abi für ein Studium oder eine Berufsausbildung entscheidest, stehen Dir keine erkennbaren Hürden im Weg. Aber wenn ich mit Kolleginnen spreche oder mit Frauen an der Uni, dann ahne ich: Die nicht sofort erkennbaren Hürden, auf die Du treffen kannst, sind längst noch nicht abgeräumt. Ich sehe die gläsernen Decken, ich erlebe die Demütigungen vom Gender-Pay-Gap bis zum marginalen Anteil von Frauen in Führungspositionen. Und ich weiß: Es ist nicht vorbei, es ist noch längst nicht geschafft. Im Gegenteil. Ich höre von einem „Genderwahnsinn“ schwadronieren, als ob der Ruf nach Gleichberechtigung eine psychiatrische Erkrankung wäre oder eine fixe Idee, auf die „kein normaler Mensch“ kommen könnte. Es macht mich traurig und wütend, dass Errungenschaften im Verhältnis der Geschlechter wieder infrage stehen. Merk Dir, wie in der Pandemie alte Rollenbilder aufgelebt sind! Vielleicht nicht mal absichtlich – was aber nicht weniger bedenklich ist, weil es zeigt: Selbstverständlich ist selbstverständlich nicht selbstverständlich.

Ich weiß, ich habe gut reden. Ich habe selbst von den „alten Verhältnissen“ profitiert, bin nie Opfer von Geschlechterdiskriminierung geworden. Kunststück, wirst Du sagen, du bist ja auch ein alter weißer Mann. Stimmt. Umso mehr wünsche ich Dir, dass Du – wie ich – tolle Chefs und Chefinnen haben wirst, die auf Deine Begabungen und Fähigkeiten schauen. Und nur darauf. Ich wünsche Dir auch, dass Du Dich zur Wehr setzt, wo es ungerecht oder gar sexistisch zugeht. Mit der Widerstandskraft und dem Selbstbewusstsein, das wir Dir mit auf den Weg geben wollten.

Und ich wünsche Dir und den Frauen Deiner Generation, dass Ihr Euch zusammentut, nicht mehr in die miesen, manchmal selbst gestellten Fallen aus dem Macho-Materiallager geht: Quoten – braucht kein Mensch! Meine Chefin – patriarchaler als jeder Mann! Lass Dir nie einreden, dass Macht etwas Männliches sei oder dass überhaupt etwas männlich bzw. weiblich sei. Lass Dir nie vorschreiben, was Du „als Frau“ zu tun oder zu lassen hast. Mach einfach Dein Ding – als eine Nippeser Michelle.

Joachim Frank, Chefkorrespondent  

Ihr werdet richtige Wege finden

Meine geliebten Töchter,

Ihr seid erst sieben, und doch staune ich jeden Tag darüber, mit welcher Klugheit ihr die Welt durchschaut. Ihr regt Euch auf, dass bei den „Drei ???“ nur Jungs die Abenteuer erleben und eine der „Drei !!!“ dauernd sagt, sie dürfe jetzt keinen Keks mehr essen, sonst passe die Jeans nicht mehr. Ihr kennt Homosexuelle und Transgender, für Euch ist das nichts Falsches. Als ich sieben war in der süddeutschen Provinz war das erste hochexotisch, das zweite nicht existent. Trotzdem bin ich manchmal erstaunt, wie sehr Euer Schulhof unserem gleicht. Die Jungs kicken, die Mädchen spielen Pferd.

Maria Dohmen

Maria Dohmen ist Ressortleiterin Story/NRW.

Wenn ihr groß seid, bitte schafft den Weltfrauentag ab. Er macht Euch zu Opfern und Nachfahrinnen derer, die sich schlechter bezahlen lassen, die sich schlechter behandeln lassen, die anderen die Macht überlassen haben und überlassen mussten. Ihr werdet nicht schwach sein, und ihr werdet niemanden schwach machen, aber Schutzbedürftige wird es immer geben. Nur dass ein Weltfrauentag daran nichts ändert. Jeder Tag ist Frauentag. Vielleicht könnt schon ihr eine Zeit erleben, in der niemand wegen seines Geschlechts, der Hautfarbe, der Herkunft schlechtergestellt ist und es keine Rolle spielt, mit wem er, sie oder hem Sex hat.

Bei allen Privilegien macht es mich traurig, dass auch ihr noch viel von dieser alten Zeit erleben werdet, auch wenn ihr sicher anders damit umgehen werdet, als ich es getan habe. Und natürlich hat es auch etwas mit mir zu tun, dass ihr in ein paar Jahren, wenn ihr mit Eurem Bruder ausgeht, nicht wie er sturzbetrunken und halb nackt über die Ringe torkeln könnt. Und da ist von DAX-Vorstand noch nicht einmal die Rede. Ihr werdet zu schnell erwachsen sein, als dass Feminismus der Geschichte angehörte, weil man ihn nicht mehr braucht. Dennoch: Ihr werdet Astronautin, Erfinderin oder Katzenpodologin. Und ihr werdet richtige Wege finden.

Maria Dohmen, Ressortleiterin Magazin

Anstrengend war's schon

Liebe Tochter,

solche Glücksmomente bleiben in lebendiger Erinnerung: Nach drei Jungs endlich ein Mädchen geschenkt zu bekommen. Und das Schönste – dieses Glück hält immer noch an, Lieblingstochter. Ob ich Dir ein guter Vater war und bin? Dich zu begleiten war jedenfalls immer eine Freude. Obwohl: Anstrengend war’s manchmal schon.

Zum Beispiel, wenn Du, noch als Sprech-Anfängerin, mitten in der Nacht um jeden Preis Apfelsaft haben wolltest. A-pfel-Saft, Widerspruch unmöglich. Andererseits war das ein deutlicher Hinweis, dass da ein selbstbewusstes, willensstarkes Mädchen mit wilden Locken heranwuchs. Das bekamen nicht nur Deine Eltern zu spüren, sondern auch der kleine Bruder, der nach vier Jahren die Familie vervollständigte und Dich als Erzieherin lebhaft in Erinnerung haben dürfte.

Wolfgang Schmitz

Wolfgang Schmitz

Apropos Erziehung: Gemessen an dem Aufwand, der heute in manchen Kreisen mit der Lektüre unzähliger Ratgeber, mit Selbsthilfegruppen und Ähnlichem getrieben wird, um aus Kindern gesellschaftsfähige Erwachsene zu destillieren, müssen wir wohl ziemliche Rabeneltern gewesen sein. In vielem sind wir schlicht unserem Gefühl gefolgt. Wollten, dass Du sagst, was Du denkst. Haben für Freundlichkeit und Respekt gegenüber allen Menschen geworben, Freude an schönen Dingen zu vermitteln versucht und Dankbarkeit. Schule lief von selbst.

Als Du die Bühne als Spielort für Dich entdeckt hast, waren wir stolz. Dein Talent, die unterschiedlichsten Rollen inklusive spontaner Tränenproduktion mit Leidenschaft zu bedienen, war im Alltag gelegentlich eine Herausforderung, nicht nur für uns. Und dann stand, für uns viel zu plötzlich, eine selbstbewusste junge Frau vor uns und verabschiedete sich in Richtung Kanada für ein paar Au-pair-Monate. Haben wir geheult…

Und heute, Du bist inzwischen eine wunderbare, liebevolle junge Mutter, ein Blick zurück. Was haben wir versäumt? Du bist eine starke junge Frau, die ihr Wort macht, sich nichts gefallen lässt. Ob Du gelegentlich von männlichem Dominanzverhalten genervt bist? Mag sein, aber ein großes Thema war und ist das, glaube ich, für Dich nicht. Deine vier Brüder würden jedenfalls kaum widersprechen, wenn man Dich als heimliche Chefin der Geschwisterrunde bezeichnen würde. Danke, dass Du bei uns bist!

Wolfgang Schmitz, Vorstand des Literaturhauses in Köln, WDR-Hörfunkdirektor i.R.

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