Stolperstein Nummer 70.000 verlegtGeschichte der winzigen Erinnerungen begann in Köln

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Gunther Demnig bei der Verlegung eines Stolpersteins.

Köln – „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, heißt es im jüdischen Talmud. Gegen dieses Vergessen kämpft der Künstler Gunter Demnig mit Kelle und Mörtel – und mit dem Verlegen von „Stolpersteinen“ für Opfer der Nationalsozialisten. Die zehn Quadratzentimeter kleinen Messingplatten im Gehweg erinnern an Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Behinderte, politisch und religiös Verfolgte. In 24 Ländern wurden bereits „Stolpersteine“ verlegt. Am Dienstag folgte Stein Nummer 70.000.

Von einem Anlass zur Freude über die runde Zahl wolle er nicht sprechen, sagte Demnig im Kölner Domradio. „Denn letztendlich sind 70.000 Steine 70.000 zu viel.“ Immerhin zeige der jetzt in Frankfurt verlegte Stolperstein einen gewissen Wandel: Der kleine Quader erinnert an Willy Zimmerer, der 1944 von den Nationalsozialisten in der hessischen „Tötungsanstalt Hadamar“ als Behinderter ermordet wurde – genau wie rund 14.500 andere, die dort zwischen 1941 und 1945 vergast oder zu Tode gespritzt wurden. 

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Gunter Demnig hat jetzt Stolperstein Nummer 70.000 verlegt.

„Überall dort, wo Behinderte ermordet worden sind, kommen jetzt Steine“, erzählte Demnig am Dienstag im Domradio. „Es war erst sehr schwierig, weil auch Kliniken gemauert haben, die nicht zugeben wollten, dass so etwas passiert ist. Aber das wird besser“, beobachtet Demnig, der am Samstag 71 Jahre alt wird.

Begonnen hatte für den gebürtigen Berliner alles in Köln. 1990 gestaltete er dort die „Spur der Erinnerungen“ zum Gedenken an die Deportation von 1.000 Roma und Sinti 1940 durch die Nazis. Da habe eine Frau behauptet, hier hätten niemals „Zigeuner“ gelebt, berichtet er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). „Mir ist das Kinn runtergefallen, als sie das gesagt hat“, erinnert sich der Mann mit dem Schlapphut. „Da war mir klar: Ich muss weitermachen.“ So verlegt Demnig seit über 25 Jahren vor den letzten freigewählten Wohnungen von Naziopfern kleine Quader aus Beton und Messing mit den Lebensdaten der Betroffenen.

Inoffizielle Premiere vor dem Kölner Rathaus

Seine inoffizielle Premiere erlebte das Projekt im Dezember 1992 vor dem Historischen Rathaus in Köln. Über die Jahre haben sich die Stolpersteine zur weltweit größten dezentralen Gedenkstätte entwickelt. Ein Team um den Bildhauer, der Kunst und Kunstpädagogik in Berlin und Kassel studiert hat, unterstützt ihn bei Recherche und Herstellung der Stolpersteine.

Das Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden forscht zu jedem Opfer und veröffentlicht die Zeugnisse in mehreren Sprachen. Apps und ganze Bücher dokumentieren das Projekt. Für Februar ist in Berlin eine wissenschaftliche Konferenz „Zur Rolle des Stolperstein-Projekts in den Erinnerungskonflikten der Gegenwart“ geplant. Und eine von Demnig gegründete Stiftung soll die Fortführung seiner Mission sichern. 

Projekt geht über Europa hinaus

Inzwischen strahlt das Projekt sogar über Europa hinaus: Seit Oktober 2017 erinnern vor einer Schule in Buenos Aires Stolpersteine an die Kinder, die zwischen 1933 und 1945 aus Europa fliehen mussten.

Wichtig ist es Gunter Demnig, dass die Initiative zu den Verlegungen nicht von ihm, sondern von den Bürgern ausgeht. Meist fragten Geschichtsvereine an, inzwischen kämen aber auch die Urenkel von Naziopfern auf ihn zu, die in den USA, Australien oder Israel leben. 120 Euro kostet ein Stein. Termine für Verlegungen sind über Monate ausgebucht. Für sein Engagement um die vielen neuen Gedenkorte – „niederschwellig“ im Wortsinn – wurde Demnig vielfach ausgezeichnet.

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Die größte Genugtuung bereite ihm aber das Interesse der jungen Generation, betont er. Die Jugendlichen fragten sich, „wie so etwas im Land der Dichter und Denker passieren konnte“. Demnig: „Da merke ich, es kommt was zurück, das ist eine wirklich tolle Erfahrung.“

Dass das Projekt auch handfesten Widerstand provoziert, damit kann sein Erfinder leben. Hundertfach wurden Stolpersteine beschmiert, verklebt oder herausgerissen. Der aus jüdischen Kreisen vorgebrachten Kritik, Menschen trampelten auf dem Andenken der Opfer herum, wenn sie über die Stoplersteine gingen, hält Demnig entgegen, dadurch würden die Steine umso blanker. Und: „Wer eine Inschrift auf einem Stolperstein lesen will, muss sich automatisch vor den Opfern verbeugen.“ (kna)

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