Kölner Tattoo-Urgestein erzählt„Das ist heute ein anderer Menschenschlag“

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Dieter Zalisz (l.) tätowiert schon seit vielen Jahren Menschen in seinem Kölner Studio.

  • Früher galten Tattoos als anrüchig, mittlerweile sind zwischen 15 und 20 Millionen Deutsche tätowiert.
  • Was, wenn nicht die Assoziation mit der Halbwelt, macht dann die Faszination für viele aus? Und wo kommt das Tattoo überhaupt her?
  • Wir haben mit einem Kölner Tätowierer, einem Kulturwissenschaftler und Tattoo-Fans gesprochen.
  • Eine Best-Of-Geschichte.

Köln – Dies vorweg: Ja, es tut weh. Der erste Stich, wenn die Tattoonadel die Farbe einbringt in die Lederhaut, die zweite von drei Hautschichten, geht noch. Aber es ist eben nicht nur ein Stich; es sind hunderte, tausende, es sind unzählbar viele – über Stunden hinweg. Es brennt, wenn die Nadel immer wieder über die gleiche Stelle fährt.

Es zieht. Irgendwann setzt eine Taubheit ein, die den Schmerz dämpft. Aber es vibriert, es zieht bis ins Skelett, wenn die Nadel sich den Knochen nähert. Der Schmerz kommt in Wellen.

Dieser Artikel ist im Januar 2019 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen. Im Rahmen unserer „Best Of”-Reihe veröffentlichen wir regelmäßig interessante Texte aus unserem Archiv.

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Die schlimmsten Stellen sind Knie, Kehlkopf, auch am Bauch. Es kostet Kraft und Nerven – je nach Motiv dauert eine Sitzung fünf, sechs Stunden oder auch mehr. Stillhalten ist wichtig, nicht verkrampfen. Vielleicht mal eine Pause, einen Schluck trinken. Am Ende hat man das Gefühl, dass man etwas geschafft, etwas überwunden hat. Stolz, den Schmerz ausgehalten zu haben. Das gibt einen Kick, schwer zu beschreiben. Manche sagen: Das ist schön. Sicher ist: Vergessen wird man diesen Kick bestimmt nicht, nein.

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Dieses Theater des Schmerzes ist die Grundierung unter all den Körperbildern, die so stolz und offensiv präsentiert werden: Von Punkern und Bankern, von Musikern und Fußballern, von Nazis und Gegendemonstranten, von Familienvätern, Hausfrauen und von deren Söhnen und Töchtern. Die ästhetische Anlehnung an kulturelle Randbezirke wie Rock’n’Roll und Motorrad-Klubs ist augenfällig – und dennoch spielt diese Reminiszenz an eine frühere Exotik kaum mehr eine Rolle. In Deutschland sind mittlerweile zwischen 15 und 20 Millionen Menschen tätowiert – in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren trägt jeder vierte Mann und gar jede dritte Frau ein Tattoo. Das Stigma der Ausgrenzung kann somit niemand mehr in Anspruch nehmen.

Kölner Tätowierer Dieter Zalisz: „Diese Entwicklung hat mit vielem zu tun“

„Das ist heute ein anderer Menschenschlag“, sagt Dieter Zalisz, und er muss es wissen. Der 59-Jährige ist nicht nur selbst über und über tätowiert, er betreibt vor allem seit einer halben Ewigkeit das Studio „Elektrische Tätowierungen“ in Köln-Mülheim. „Diese Entwicklung hat mit vielem zu tun“, sagte er, „das Gerücht, dass man Tattoos angeblich wieder entfernen kann, hat erheblich zu diesem Boom beigetragen.“ Oder auch das Internet, „wo all die tätowierten Stars gepusht werden.“ Als Beispiele für die Verbeamtung der Körperkunst nennt er „Leute wie Peter Maffay oder Thomas Gottschalk“. Oder noch staatstragender: Als mit der Bundespräsidenten-Gattin Bettina Wulff die erste tätowierte First Lady ihren Dienst antrat, sah das zwar putzig aus, der Coolness-Faktor von Tattoos war jedoch nachhaltig zerstört.

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Jedes Jahr ein neues Bild: Anna M. zeigt ihre Tätowierungen.

Das ist aber offenbar egal: „Früher“, sagt Anna M., „da gab es mal die Verbindung von Tattoos zu Seefahrt und Knast. Aber das ist lange vorbei, wir machen uns da keine Gedanken mehr. Für mich ist das Körperschmuck, ich fühle mich damit attraktiver.“ Ihr erstes Tattoo hat sich die 27-Jährige pünktlich zu ihrem 18. Geburtstag stechen lassen, vorsichtig noch, nicht für jeden sichtbar, hinter dem linken Ohr: „Ich hatte da Lust drauf“, erzählt sie, „und wollte erst mal gucken, wie ich das finde.“ Und es war toll, fand sie.

Seither kommt fast in jedem Jahr ein neues Bild hinzu: Groß, bunt und für jeden sichtbar. „Dafür spare ich, ich verzichte zum Beispiel auf Urlaub.“ Ein Ritual ist das jedes Mal: „Ich denke lange nach, was ich haben möchte“, erzählt die Kölnerin, „ich habe ein Vorgespräch mit meiner Tätowiererin, sie zeichnet ein Muster. Wenn wir uns einig sind, nehme ich mir einen Tag Zeit und bekomme ein Motiv, das mir wichtig ist.“ Zum Beispiel das hier, auf dem linken Oberarm: „Das erinnert mich an einen Tag bei meiner Oma, als ein Rotkehlchen auf ihr Knie gehüpft ist.“ Rock’n’Roll, das muss man sagen, klingt anders.

Im alten Rom markierten Tattoos einen Sklaven

Tobias Lobstädt arbeitet als Bildungsreferent und Medienpädagoge in Düsseldorf, er hat promoviert über „Tattoos als Mittel der Kommunikation, Inszenierung und Selbstwertregulation bei Jugendlichen“ und hält Vorträge über die Geschichte des Hautschmucks. In Europa gibt es Belege für Tätowierungen bis in die Steinzeit. Die 61 strichförmigen Runentätowierungen der Gletschermumie Ötzi gelten als die 5000 Jahre alten Vorfahren des „Arschgeweihs“.

Im antiken Rom und Griechenland wurden Tattoos weniger als Schmuck genutzt: Man kennzeichnete damit Sklaven. Den Frühchristen wurden Kreuze tätowiert, erzählt Lobstädt. Damals noch eine religiöse Minderheit, beanspruchten die Christen die Praxis für sich und setzten sie fort. Kreuzritter trugen religiöse Motive, Pilger ließen sich das Stadtwappen Jerusalems unter der Haut verewigen.

In der jüngeren Geschichte wurde die Tätowierung wieder populär durch die Seefahrer, die die Kulturtechnik aus der Südsee mitbrachten. In vielen Gegenden verbindet man noch heute Tattoos mit Kriminalität. In Japan etwa, wo sich die gefürchteten Yakuza den tätowierten Oberkörper zum Erkennungszeichen gemacht haben. Aber auch Sissi, die berühmte Kaiserin Elisabeth von Österreich, trug unter Rüschen und Locken ein Anker-Tattoo im Nacken.

Lobstädt betont den verbindenden Charakter: „In einem akzeptierenden Umfeld dient eine sichtbare Tätowierung als Kommunikationsangebot.“ Anna M. bestätigt das: „Natürlich bekommt man Feedback. Die Leute gucken gerne, man kommt ins Gespräch.“ Lobstädt sieht in dem Schmerz ein so soziales wie persönliches Statement: „Eine Tätowierung ist nur echt und wertvoll, wenn sie für immer ist und unter Schmerzen erworben wurde.“

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