Unfallspezialisten der Polizei Köln„Inzwischen habe ich unzählige Tote gesehen“

Unfall am Dreieck Heumar im Oktober vergangenen Jahres: Ein Motorradfahrer fährt von hinten auf ein Auto auf und erleidet schwerste Verletzungen.
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- Unfallspezialisten der Kölner Polizei sichern Spuren an Hunderten Orten im Jahr.
- Oft bekommen die Polizisten erdrückende Bilder zu Gesicht, sehen zerstümmelte Leichen oder schwer verletzte Menschen. Wie gehen sie damit um?
- Und wie sichern sie Beweise und rekonstruieren Unfallvorgänge? Eine Reportage.
Köln – Zwei ausgebrannte Autowracks stehen auf der A4 Richtung Aachen, ein paar gelbe Kreidekreise umrahmen eine Trümmerlandschaft auf der ansonsten leeren Autobahn. Vier junge Menschen sind gestorben, drei davon verbrannt. Es sind Bilder wie dieses von einem Frontalzusammenstoß in einer Spätsommernacht 2017, die als Mahnmale in den Fluren der Verkehrspolizei an die alltägliche Gefahr im Straßenverkehr gemahnen.
„Inzwischen habe ich unzählige Tote gesehen“, sagt Achim Schulze-Schwanebrügger, der seit 15 Jahren nach fast jedem schweren Verkehrsunfall für die Kölner Polizei die Spuren sichert. Wenn er und sein Unfallaufnahmeteam vor Ort ankommen, sind die Verletzten meistens schon in der Klinik. Die Leichen aber sind noch nicht geborgen, weil sie Teil der Spurenlage sind. „Vieles, was man da sieht, lässt einen lange nicht los“, sagt der 64-Jährige.
Kölner Polizeihauptkommissar oft der letzte Zeuge bei Unfällen
Der Polizeihauptkommissar ist oft der letzte Zeuge, wenn ein Unfall rekonstruiert wird. Fuhr der Radfahrer tatsächlich unvermittelt zwischen den geparkten Autos auf die Fahrbahn? Oder fuhr er nicht doch schon die ganze Zeit vor dem Auto auf der Straße und kam nur durch ein unachtsames Überholmanöver zu Fall? Spuren, die solche Details auflösen, klären die Verursacherfrage, geben Opfern Gerechtigkeit und den Hinterbliebenen Gewissheit. Zum Beispiel Dellen auf Motorhauben: Entwickelt sich der Beulenversatz von rechts unten Richtung Windschutzscheibe, kam der Fußgänger oder Radfahrer von rechts.
Oder die Abwurfweite, wie Unfallspezialisten die Entfernung zwischen Auto und Leiche nennen. Liegt ein Körper hinter dem Auto auf der Straße, wurde der Mensch über das Dach des Autos geschleudert, was auf hohes Tempo hindeutet. Liegt der Körper vor dem Auto, war dessen Fahrer langsamer unterwegs. Mit gelber oder rosafarbener Sprühkreide markieren die Unfall-Polizisten solche Spuren.

Markierungen mit Sprühkreide
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„Wenn es einen Toten bei einem Verkehrsunfall gibt, nehmen wir den genauso ernst wie die Kollegen einen Toten bei einem Kapitaldelikt. Wir können dem Todesopfer ein letztes Mal eine Stimme geben. Er macht sozusagen durch uns seine letzte Aussage“, sagt Schulze-Schwanebrügger.
Lange Suche nach Spuren auf Straßen oder in Böschungen
Man würde ihm wohl nicht zu nahe treten, ihn einen „Mann von der Straße“ zu nennen, oder besser: „für die Straße“. Ungeklärte Fragen wurmen ihn, er sucht so lange nach Spuren auf Straßen oder in Böschungen, bis er weiß, was passiert ist. „Es wäre eine Katastrophe für alle Beteiligten und Angehörigen, wenn wir nicht herauskriegen würden, wie sich der Unfall abgespielt hat. Und es macht mich fuchsteufelswild, wenn ich das nicht weiß“, sagt er.

Polizeihauptkommissar Achim Schulze-Schwanebrügger (M.) mit einem Teil seines Teams.
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41.440 Verkehrsunfälle gab es 2019 in Köln, wie aus der am Dienstag veröffentlichten Statistik hervorgeht. Schulze-Schwanebrügger kommt nur zu den schweren Fällen. Die 41.440 sind trotz stetig steigender Verkehrszahlen etwa 500 weniger als im Vorjahr – und dennoch mehr als in den Jahren 2010 bis 2015. „Die Statistik ist besser als im vergangenen Jahr, aber nicht gut“, sagte Polizeipräsident Uwe Jacob am Dienstag. Bei ungefähr jedem neunten Unfall gibt es Verletzte oder gar Tote. 5450 Menschen verunglückten 2019 auf Kölns Straßen, 719 davon wurden schwer verletzt, 24 starben, darunter drei Radfahrer, alle ohne Helm. „Bei jedem Verkehrstoten sind 100 Menschen Betroffen. Angehörige, Freunde, Polizisten, die die Todesnachricht überbringen müssen“, sagt Jacob.
E-Scooter fließen erstmals in Polizeistatistik
Neu auf Kölns Straßen waren seit dem Sommer die E-Scooter, die also erstmals in die Polizeistatistik einfließen. 134 Menschen verunglückten seit Ende Juni bei Verkehrsunfällen unter Beteiligung von E-Scootern, darunter waren 111-mal die Fahrer selbst die Verursacher. 25 Menschen wurden schwer verletzt. „Wir haben fast jeden Tal einen Unfall mit einem E-Scooter. Viele Menschen überfordert das neue Verkehrsmittel offenbar, und sie können damit nicht richtig umgehen“, sagte Jacob.
Allein an Weiberfastnacht dieses Jahres stoppte die Polizei 13 betrunkene E-Scooter-Fahrer. Aber die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagte Werner Gross, Leiter der Verkehrsdirektion. Immerhin: Einen tödlichen E-Scooter-Unfall hat es in Köln bisher nicht gegeben.
16-köpfige Unfallaufnahmeteam arbeitet mit High-Tech-Ausrüstung
Trotzdem bearbeitet das 16-köpfige Unfallaufnahmeteam, das Schulze-Schwanebrügger vor 15 Jahren mitgegründet hat, hunderte Fälle im Jahr, rund um die Uhr. Wenn das Team einen Unfallort kommt, tut es das inzwischen hoch ausgerüstet. „Wir arbeiten mit Geräten auf High-Tech-Level“, sagt der Polizeihauptkommissar. Darunter ein Lasergerät, das 2,5 Millionen Messungen pro Sekunde macht, um den Unfallort zu scannen.
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Die Papierskizze von einst, der Zollstock, das Maßband sind obsolet geworden. „Wir können zum Beispiel die Unfallstellen so genau in 3D aufnehmen, dass wir hinterher bei einer Vernehmung einen Zeugen oder Verdächtigen mit dem Bild in die reale Situation hineinsetzen können“, erklärt Schulze-Schwanebrügger. Wenn also zum Beispiel der Autofahrer bei der Vernehmung sagt, er habe den von rechts herankommenden Radfahrer hinter einem geparkten Auto nicht sehen können, kann ihn die 3-D-Aufnahme direkt überführen, wenn an der Stelle zu dem Zeitpunkt kein Auto geparkt war. „Spuren lügen nicht“, sagt Schulze-Schwanebrügger. Und man sieht ihm die Genugtuung darüber an, dass er derjenige ist, der mit Fakten Wahrheit schaffen kann, besonders für die Opfer und deren Angehörige.
Neben dem Bild der verkohlten Autowracks hängt noch ein Foto einer Stoffpuppe. Ein Kind ist verunglückt, aber am Leben geblieben. Das Kuscheltier lag noch an der Unfallstelle. Auch das eine Momentaufnahme, wie es sie auf Kölns Straßen gibt.