Grünes Haus in Holweide„Viele werden ohne Therapie keine 30“ – Kölner Klinik hilft Jugendlichen

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Therapiehund Rico der.Jugendpsychiatrie Holweide liegt mit einer Patientin auf dem Boden.

Zum Grünen Haus der Jugendpsychiatrie Holweide gehört auch Therapiehund Rico.

Ins Grüne Haus in Holweide kommen Jugendliche mit schweren Suchterkrankungen. Hilferufe von einem Ort, an dem es um Leben und Tod geht. 

Teresas Mutter ist heroinsüchtig, ihr Vater Alkoholiker, Teresa hat mit zwölf angefangen zu kiffen, irgendwann auch „geballert“. Seit neun Monaten war sie nicht mehr in der Schule, seit vier Wochen ist sie auf Entzug. Jetzt sitzt die 14-Jährige in einem Besprechungsraum der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Holweide und sagt, dass sie Anwältin werden möchte.

„Ich will anderen Menschen helfen“, erzählt sie leise, „weil ich Gerechtigkeit will. Ich kann das schaffen, ich weiß, dass ich das schaffen kann.“ In ihr Stocken mischt sich ein trotziges Lächeln. „Ich kann das schaffen“, echot sie, „natürlich kann ich das schaffen. Ich kann alles schaffen.“

Grünes Haus in Holweide: Bei vielen Jugendlichen geht es ums Überleben

Im Grünen Haus, das Jugendlichen zehn Plätze zum Drogenentzug bietet, kann Teresa, die wie alle Patientinnen in dieser Geschichte eigentlich anders heißt, zur Ruhe kommen. Sie leidet unter starken Ängsten, die nachvollziehbar werden, wenn man erfährt, dass sie nur wenige Jahre bei ihren Eltern lebte und bei Besuchen zu Hause immer wieder erlebte, wie Vater, Mutter und deren Freunde Heroin spritzten, tranken, im Chaos versanken; dass sie aus einer Einrichtung, in die sie zugewiesen wurde, flüchtete, irgendwann kaum noch zur Schule ging, immer mehr kiffte, schließlich in einer Pflegefamilie landete, deren jugendlicher Sohn mit Drogen dealt, wie das Klinikteam unlängst feststellen musste.

Ich will Anwältin werden, weil ich anderen Menschen helfen will
Teresa (15), die wegen Marihuana-Abhängigkeit in Holweide therapiert wird

Hier gehe es ihr gut, sagt Teresa, sie sei motiviert, mache ihre Hausaufgaben, sehe wieder nach vorn. Sie habe ein Ziel: „Ich will nicht so enden wie meine Eltern.“

Für Dr. Armin Claus, der das Grüne Haus mitaufgebaut hat und kommissarisch leitet, bedeutet die Arbeit von ihm und seinem Team zuerst, „dass wir dabei helfen, dass diese Kinder und Jugendlichen überleben. Ein Mädchen wie Teresa würde ohne qualifizierten Entzug und therapeutische Begleitung mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit keine 30 Jahre alt werden“. Seit er selbst Kinder hat, bewegen Claus die Schicksale seiner jungen Patientinnen und Patienten mehr als zuvor. Vor wenigem habe er größere Sorgen als vor einer Drogen- oder Spielsucht seiner inzwischen 18 und 20 Jahre alten Söhne gehabt. Die geplante Cannabis-Freigabe der Bundesregierung kritisiert er scharf – in allen Ländern habe der Konsum nach einer Legalisierung zugenommen. Samt der verheerenden Folgen wie Psychosen und schweren Angststörungen, mit denen er täglich konfrontiert ist.

Armin Claus vor dem Grünen Haus

Dr. Armin Claus hat das Grüne Haus mit aufgebaut.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ begleitet Claus und sein Team für einen Tag im Grünen Haus. Die Station ist halbgeschlossen – die Jugendlichen kommen freiwillig, dürfen aber nicht raus.  Manche versuchen abzuhauen, es gibt Dealer, Zuhälter oder (falsche) Freunde, die „mit erstaunlicher Energie versuchen, Kontakt zu unseren Patienten aufzunehmen und sich Einlass zu verschaffen“, wie Claus sagt. Der Rückfall wartet vor der Kliniktür.

Vor der Chefarztvisite trifft sich das Team aus Psychiatern, Sozialarbeiterinnen, Therapeuten und Pflegerinnen, um den Zustand der momentan acht Mädchen und zwei Jungs abzugleichen. Da ist Marie (15), „die nicht damit einverstanden ist, hier zu sein“, wie Claus referiert. Marihuana- und amphetaminabhängig, vom Gymnasium auf die Hauptschule durchgereicht, „sehr ungeduldig, will selbstbestimmt sein“. Der Vater sei Alkoholiker, die Mutter habe mehrmals Gesprächstermine abgesagt.

„Möglicher sexueller Übergriff während Heimatbesuchs“

Zu jeder Patientin referiert das Team vor dem Besuch im Zimmer Verhalten, Befinden, Wünsche und besondere Ereignisse. „Stimmungseinbruch am Dienstag“ – „würde sich gern quälen“ – „möglicher sexueller Übergriff eines älteren Mannes während eines Heimatbesuchs“ – „wünscht sich Heimatschulversuch“ – „Mutter mit psychiatrischer Problematik“ – „macht sich viele Vorwürfe“ – „sexuelles Risikoverhalten, Geschlechtsverkehr mit wechselnden Männern gegen Drogen“. Jedes Detail wird angesprochen, festgelegt, ob Eltern, Polizei oder Jugendamt eingeschaltet werden müssen. Vor der Visite muss jeder im Team im Bilde sein.

Die Visite bedeutet für viele der Jugendlichen anfangs eine Überforderung: Da steht ein Team von fünf, sechs, sieben Erwachsenen vor ihnen in ihrem kleinen Zweierzimmer, der leitende Arzt sitzt auf einem Stuhl vor ihnen und stellt Fragen, die Patienten hocken wie der 17-jährige José zusammengekauert auf dem Bett. José stottert stark, er hat familiäre Gewalt erfahren, leidet unter einer Psychose, doch an diesem Morgen wirkt er recht zuversichtlich. „Ich lese mehr und zeichne gern Autos“, sagt er. „An was kann ich noch arbeiten?“, fragt er Claus. „Versuche, deinen Alltag normal zu leben: In der Schule noch mehr mitzumachen, noch mehr zu lesen. Du bist auf einem guten Weg.“

Armin Claus im Gespräch mit seinen Kollegeninnen und Kollegen

Armin Claus spricht mit seinen Kolleginnen und Kollegen ausführlich über jede Patientin und jeden Patienten. Der Therapieprozess ist sehr aufwändig.

Teresa sitzt mit „Gregs Tagebuch“ in der Hand auf dem Bett. „In welchen Bereichen geht es aufwärts?“, fragt Claus. „In allen, glaube ich“, sagt Teresa. „Hast Du Suchtdruck?“ – „Nein, gar nicht, null.“ – „Woran willst Du arbeiten?“ Sie hält einen Zettel hoch, auf dem eine Rangliste mit Situationen steht, die ihr Angst machen. „An meinen Ängsten.“ Ob sie am Wochenende zu Hause schlafen könne? – „Wir besprechen das.“ An die Situation bei der Visite habe sie sich inzwischen gewöhnt, wird Teresa später sagen. „Ich weiß, dass alle mir helfen wollen. Aber am Anfang war es wie ein Verhör.“

Die Zweier-Zimmer ähneln sich: ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Wandregal mit ein paar Büchern. Kein Fernseher, keine Handys. Viele Kuscheltiere. Nadine, getuschte Wimpern, lange Fingernägel, hat einen Teddybären im Arm. Sie strenge sich an, sagt die 15-Jährige, sei motiviert. „Respekt dafür“, sagt Claus, „schließlich willst du eigentlich gar nicht hier sein“. Nadine möchte unbedingt Kontakt zu ihrem Freund haben – warum das Team zurückhaltend ist, wird bei der Nachbesprechung der Visite deutlich. 

Nadines Freund soll einen schweren Raubüberfall begangen haben

Nadines Freund soll einen schweren Raubüberfall begangen haben. Ob er in U-Haft ist oder auf der Flucht, ist nicht ganz klar. Die Therapeuten vermuten, dass er Nadine emotional und sexuell abhängig macht. Er wolle, dass sie Kopftuch trage, übe vermutlich systematisch Macht über sie aus. Nadine, die Amphetamine genommen hat, möchte nach dem Entzug in eine offene Wohngruppe – zurück zu ihrer seelisch kranken Mutter kann sie nicht, hat selbst vorgeschlagen, vorrübergehend in eine Notschlafstelle zu gehen. Weil die Mutter Gesprächstermine nicht wahrnimmt, überlegt das Team, das Jugendamt einzuschalten.

„Rund ein Drittel der Eltern unserer Patienten haben selbst psychiatrische Erkrankungen“, sagt Armin Claus. „Das erhöht das Risiko von seelischen Erkrankungen der Kinder enorm.“ Der Anstieg psychischer und psychiatrischer Erkrankungen bei Erwachsenen spiegelt sich bei Kindern und Jugendlichen wider. Für das Grüne Haus gibt es eine Warteliste, die seit der Corona-Pandemie deutlich länger geworden ist. Allein die Anzahl mediensüchtiger junger Menschen, die hier auch behandelt werden, hat sich während der Zeit der Lockdowns Studien zufolge verdoppelt. Depressionen haben vor allem bei Mädchen zugenommen.

Nach akuten Zusammenbrüchen oder traumatisierenden Erfahrungen müssen die Kinder und Jugendlichen sofort aufgenommen werden – für die anderen Patienten gibt es Wartezeiten, die auch deswegen länger werden, weil es in Nordrhein-Westfalen deutlich zu wenige Therapieplätze gibt. Und das, sagt Claus, „gilt leider nicht nur für die akute Entwöhnung“.

Langzeit-Therapie in Hamm schließt – für junge Suchtkranke ist das fatal

Zum 31. Januar hat in Hamm die Abteilung für Sucht-Rehabilitation für Jugendliche und junge Erwachsene geschlossen, weil sie seit Jahren nicht mehr ausreichend finanziert werden konnte. Aus Holweide und einer dem Grünen Haus ähnlichen Station in Marienheide wurden jedes Jahr viele junge Menschen in Hamm weiterbehandelt. „Bei den wenigsten reicht eine Entwöhnung bei uns aus, um sie dauerhaft zu stabilisieren“, sagt Armin Claus. Mit der Langzeittherapie-Station in Hamm schließt eine von bundesweit nur drei vergleichbaren Einrichtungen – aus Kostengründen. Gerüchten zufolge soll eine ähnliche Entwöhnungs-Einrichtung in Viersen aus finanziellen Gründen ebenfalls vor dem Aus stehen. „Das ist ein Beispiel für eine kurzfristige Sparpolitik, die den Staat langfristig teuer zu stehen kommt“, sagt Claus.

Viele der suchtkranken Jugendlichen blieben ohne Langzeittherapie „lebenslang Sucht- und Sozialfälle – und sterben früh“. Die Versorgungslücke bedeute „humanitär wie auch volkswirtschaftlich eine Katastrophe, die durch die Legalisierung von Cannabis noch vergrößert wird“.

Aufenthaltsraum im Grünen Haus

Aufenthaltsraum im Grünen

Die Visite geht bei der 15-jährigen Janine weiter, auf deren Nachttisch das Buch „Corpus Delicti“ von Juli Zeh liegt – ein Roman, der in einer Gesundheitsdiktatur spielt, die seine Bürger durch ständige Überwachung zu einer gesunden Lebensweise zwingt. Janine fühlt sich in der Therapie sehr wohl. Womöglich zu wohl, vermutet das Team. In der Klinik hat sie stark zugenommen. Gekommen ist Janine wegen Depressionen, Phobien und Suizid-Ankündigungen, einhergehend mit Alkohol- und Medienabhängigkeit. Sie ist schon zum dritten Mal im Grünen Haus. Weil es ihr deutlich besser gehe, wünscht sie sich einen Versuch, nach Hause und in die Schule zurückzukehren.

Beim 16-jährigen Fritz ist Dr. Claus ratlos. Weil er bei einem Intelligenztest sehr gut abschnitt (120 Punkte) und keine Ironie zu verstehen scheint, wird überprüft, ob er eine Form von Autismus haben könnte. Fritz geht schon länger nicht mehr zur Schule, gilt als depressiv und ist schwer zugänglich. Mit zusammengesunkenen Schultern hockt er auf der Bettkante, mit der runden Brille und den Wuschelhaaren sieht er ein bisschen aus wie ein trauriger Harry Potter.

Von Claus auf Schule und Hausaufgaben angesprochen, sagt er leise: „Die Hausaufgaben mache ich nur manchmal, ich weiß, dass ist nicht gut.“ – „Wie könntest du das ändern?“ – Schulternzucken. „Ich möchte, dass Du nächste Woche nicht wieder sagst: Ich habe die Hausaufgaben nicht gemacht“, sagt Claus. „Ich glaube, du hast dich lange an eine Sonderbehandlung gewöhnt. Da musst du dich herausarbeiten.“ Der Junge scheint jetzt fast im Bett zu versinken. Erst, als Claus ihn nach seinem Buch fragt, „Per Anhalter durch die Galaxis“, hellt sich dessen Miene auf: „Lese ich schon zum zweiten Mal“, sagt er. „Super Buch.“

Nach der Visite bespricht das Team bei Filterkaffee und Wasser detailliert über jeden Fall. Janine soll Ende der Woche entlassen werden und nach dem Hamburger Modell wieder an die Schule gewöhnt werden. Bei Fritz hat ein Asperger-Befragungsbogen ergeben, dass er nicht von dieser Autismus-Art betroffen ist. Ein Praktikum in einer Schreinerei wird besprochen – Tischler würde er gern werden. Momentan ist das unrealistisch – Fritz ist 16 und geht in die achte Klasse, seine Schulkarriere sei „unterirdisch“, er verweigere sich maximal und könne kaum allein auf die Toilette gehen, sagt Stationsarzt Thomas Schmitz. Teresa entwickele sich gut, aber wie umgehen mit der Tatsache, dass der Sohn der Pflegefamilie mit Marihuana deale?

Wir erleben oft, dass junge Menschen es schaffen, wieder Fuß zu fassen, in die Schule gehen, Abschlüsse machen
Armin Claus, kommissarischer Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie Holweide

Oft geht es in der täglichen Arbeit der Ärzte, Therapeutinnen und Sozialarbeiter im Grünen Haus um Risiken, die den Erfolg der Therapie akut gefährden – und auf deren Antwort sie auch im Zusammenspiel mit Jugendamt oder Polizei eher geringen Einfluss haben. „Trotzdem erlebe ich unsere Arbeit als äußerst sinnvoll“, sagt Armin Claus. „Immerhin erleben wir oft, dass junge Menschen es schaffen, wieder Fuß zu fassen, wieder in die Schule gehen, Abschlüsse machen – und Jahre später schreiben, dass sie einen Beruf haben, eine Familie gegründet haben – und seit der Behandlung keine Drogen mehr genommen haben.“

Das Team spricht heute zuletzt über Jessy, die „sexuelles Risikoverhalten“ zeige, vermutlich Sex gegen Geld habe, um Drogen zu finanzieren, und deren Mutter eine „psychiatrische Problematik“ habe. Alle sind sich einig, dass die 16-Jährige, die sich oft Vorwürfe macht, nicht mehr zu Hause leben kann – und noch länger therapiert werden muss. Wie wird der Kontakt mit der Mutter geregelt? Wie kann verhindert werden, dass das Mädchen nach der Entlassung wieder in alte Muster verfällt? Jessy bräuchte „dringend eine Langzeittherapie, um überhaupt die Chance zu haben, ein Leben frei von Abhängigkeiten zu führen“, sagt Claus. Eine Chance, die sie womöglich nicht erhält, weil es die Therapieplätze, die sie braucht, nicht mehr gibt.

Telefonseelsorge – Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

Kinder- und Jugendtelefon – Das Angebot des Vereins „Nummer gegen Kummer“ richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams „Jugendliche beraten Jugendliche“ die Gespräche an. nummergegenkummer.de.

Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention – Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de

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