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50 Jahre „Der weiße Hai“Wie Steven Spielbergs fieser Fisch das Kino für immer veränderte

Lesezeit 5 Minuten
Richard Dreyfuss als Matt Hooper in einer Szene des Films "Der weiße Hai" (1975). «Jaws», so der Originaltitel, war damals der bis dato erfolgreichste Kinofilm und gilt als Geburtsstunde des Sommer-Blockbusters.

Richard Dreyfuss als Matt Hooper in einer Szene des Films „Der weiße Hai“ (1975).

Vor 50 Jahren erfand Steven Spielberg dank einer defekten Hai-Attrappe den modernen Blockbuster. Seitdem leben wir in der Welt von „Jaws“. 

Susan Backlinie schwamm schon als Zehnjährige Meile um Meile vor der Küste Floridas, später wurde sie Landesschulmeisterin im Freistil. Im Vergnügungspark „Weeki Wachee Springs“ posierte der Teenager als Meerjungfrau, später ritt die sandblonde Bikini-Schönheit für eine kalifornische Tierschau auf dem Rücken eines Wasserski fahrenden Löwen.

Der skurrile Lebenslauf qualifizierte Backlinie dazu, vom Hai gefressen zu werden, auf besonders spektakuläre Weise. Es war ihre Eintrittskarte in die Filmgeschichte. In der ersten Szene von Steven Spielbergs „Der weiße Hai“ (im Original „Jaws“, also „Kiefer“) wird die Stuntfrau zum hämmernden Zwei-Noten-Ostinato von John Williams erst unter, dann mit hoher Geschwindigkeit durchs Wasser gezogen – jeweils zehn Männer an zwei Stahlseilen simulierten die Kraft des riesigen Raubfisches.

Steven Spielberg war erst 27, als er sein erstes Meisterwerk drehte

Der junge Regisseur – er ist erst 27 – ließ Backlinie im Unklaren darüber, in welche Richtung sie als nächstes gerissen werden würde, ihr Entsetzen musste echt wirken: „Nach deiner Szene soll sich jeder Kinobesucher unterm Sitz zwischen Popcorn und Kaugummi verstecken“, habe Spielberg gesagt, erinnerte sich das willige Hai-Opfer.

Sein Wunsch ging in Erfüllung. Als „Jaws“ vor 50 Jahren, am 20. Juni 1975, in den USA anlief, standen die Menschen kilometerweit vor den Kinos Schlange, um sich in der Sicherheit eines verdunkelten Saales gemeinsam vor dem großen Hai zu fürchten, um ebenso heftig hin- und hergerissen zu werden wie Susan Backlinie. Viele stellten sich anschließend wieder am Ende der Warteschlange an, bereit für die nächste maritime Achterbahnfahrt, wenn auch nicht mehr für den geplanten Urlaub am Strand.

Der moderne Sommer-Blockbuster war geboren: Bis heute setzt Hollywood auf üppig budgetierte Filme, die eine steile Hypothese – was wäre, wenn man Dinosaurier wieder zum Leben erwecken könnte? – als Köder nutzen, um ein möglichst breites Publikum zu fischen: Der wahre weiße Hai waren immer wir.

Das Filmstudio Universal bewarb „Jaws“ mit einem Sperrfeuer an kurzen TV-Spots und ließ den Film auf mehr als 400 Leinwänden quer durchs Land anlaufen. Warum sollte man sich vom Wohlwollen der Zeitungskritiker abhängig machen, wenn man die Leute schon vor Kinostart davon überzeugen konnte, dass hier ein Ereignis auf sie wartete, welches sie unmöglich verpassen durften? Die neue Überwältigungstaktik wurde belohnt: „Der weiße Hai“ durchbrach als erster Film überhaupt die 100-Millionen-Dollar-Grenze an den Kassen und wurde zum bislang erfolgreichsten Film in der Geschichte des Mediums. Ein Rekord, den Spielbergs Freund George Lucas zwei Jahre später mit „Star Wars“ einholte.

Kritiker machten „Der weiße Hai“ für den Niedergang des New-Hollywood-Films verantwortlich

Bis heute werden die beiden Regisseure gemeinsam für das Ende der künstlerisch ungemein fruchtbaren Experimentalphase des New-Hollywood-Films verantwortlich gemacht – und für den Beginn eines sich selbst ähnelnden Eventkinos, in dem der eigentliche Film nur noch eine lästige, wenngleich notwendige Passage zwischen Marketing und Merchandising darstellt.

In dieser kulturpessimistischen Erzählung droht der „Weiße Hai“ ungerechtfertigterweise unterzugehen. Dass es Steven Spielberg derart meisterlich versteht, an den Nervensträngen seines Publikums zu ziehen, sollte man ihm nicht zum Vorwurf machen. Man fühle sich wie eine Ratte, die eine Schocktherapie bekommt, schrieb die Kritikerin der „Village Voice“ 1975. In seinem Selbstporträt als junger Künstler, „Die Fabelmanns“ (2022), zeigt Spielberg, wie gekonnt er schon als kleiner Super-8-Filmer mit den Gefühlen und Reaktionen der Zuschauenden spielte – und wie man das als den Versuch verstehen muss, auf möglichst direkte, eben filmische Weise mit den Menschen vor der Leinwand zu kommunizieren.

JAWS, 1975

Roger Kastels berühmtes Poster für „Der weiße Hai“

Dass große Teile der bis heute unvermindert wirksamen Spannung des Films der mangelnden Funktionalität seiner siebeneinhalb Meter langen Hai-Attrappe geschuldet ist, dürfte hinlänglich bekannt sein. „Bruce“ – Spielberg hatte den Fake-Fisch nach seinem Anwalt benannt – wirkte eher lächerlich als beängstigend: „Sein Schwanz wedelt wie Flipper“, klagte der Regisseur. Auch fiel das teure Modell wochenweise aus, konnte nach einer Reparatur seinen Kiefer nicht mehr schließen – ausgerechnet! – und schielte komisch. Weshalb John Williams' Musik und Bill Butlers auf Meereshöhe schwappende Handkamera zu großen Teilen den Hai ersetzen.

Und wenn wir Bruce im letzten Drittel des Films endlich das erste Mal in Großaufnahme zu Gesicht bekommen, schneidet Cutterin Verna Fields nach zwei Sekunden auf Roy Scheiders entgeistert aufschnellenden Chief Brody: So sieht der vermeintliche Jäger in den schwarzen Augen seiner Beute aus: Ein schreckbares Männlein, das nach einem größeren Schiff verlangt. Wie gesagt: Wir, die Kinogänger, sind selbst der Hai, der fressgierig nach Frischfleisch verlangt.

Dieses Begehren bedienen auch die vielen anderen Hai-Thriller, die im Fahrwasser von „Jaws“ gedreht wurden, von „Deep Blue Sea“ (1999) bis zu „Meg“ (2018), oder sie ironisieren es, wie „Hai-Alarm am Müggelsee“ oder „Sharknado“ (beide 2013). „Jaws“ erzählt jedoch noch sehr viel mehr. Die zweite Hälfte des Films, wenn Scheider als Landratte, Richard Dreyfuss als nerdiger Ozeanograf und Robert Shaw als bärbeißiger Kapitän auf der Orca in See stechen, ist ein Hemingway-Roman mit explodierenden Druckluft-Flaschen, eine Abenteuergeschichte von Männern, die sich im Angesicht der Gefahr selbst finden.

Die erste Hälfte des Films spricht heute noch stärker zu uns. Wie die Bevölkerung des Badeorts Amity, allen voran Murray Hamiltons herrlich schmieriger Bürgermeister, die Gefahr erst ignoriert, dann mit Volksfest-Methoden zu bannen sucht. So gesehen steht die kleine Inselgemeinde für die ganze Welt und der weiße Hai für die Rache der Natur. Heute ist jede Hai-Sichtung im Prinzip Grund zur Freude. 100 Millionen sterben jedes Jahr durch Überfischung. Doch ohne Bruce und seine Artgenossen bräche das marine Ökosystem zusammen.