60. Biennale von VenedigEs kriselt divers an der Lagune

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Ein Besucher läuft vor einer Reihe von Stelen vorbei, der Himmel ist bewölkt..

Ein Besucher läuft neben der Installation 'Keepers of the krown' der Künstlerin Lauren Halsey im Arsenale während der 60. Biennale der Künste.

Die 60. Kunstbiennale in Venedig folgt den globalen Fluchtbewegungen und vermisst in 90 Pavillons das Fremdsein von gestern und heute.

In Zeiten nicht abreißender Konfliktherde reicht bereits eine verschlossene Tür, um ein Statement zu setzen. Ihre Ausstellung im israelischen Pavillon in den Giardini ist fertig, aber zeigen möchte Ruth Patir sie erst, wenn in Gaza nicht mehr gekämpft wird. Schaut man durch die Glasfront, flimmert drinnen ein Film, in dem antike Fruchtbarkeitsfiguren zu sehen sind. Was als Kritik am Fortpflanzungsdruck auf Frauen von heute gedacht war, erweckt mit den Körpern, denen Köpfe und Arme fehlen, auch Assoziationen an das Massaker vom 7. Oktober.

Proteste gegen den Pavillon hat diese Verzichtsgeste nicht verhindert. Pro-Palästina-Aktivisten hatten den Vorplatz bereits vor der Eröffnung mit Flugblättern bedeckt, in denen Israel des Völkermords beschuldigt wurde. Wenige Schritte weiter hat auch der Eingang des deutschen Pavillons eine Überraschung zu bieten. Der von Çağla Ilk kuratierte Beitrag verteilt sich auf die Insel La Certosa und die Giardini. Hier versperrt ein Erdhaufen den Weg zum Portal. Etwas anderes hat man auch nicht erwartet, schließlich ist es nicht das erste Mal, dass sich Ernst Haigers Monumentalgebäude aus der NS-Zeit beinahe in einen Schutthaufen verwandelt hat.                         

Ein Generationenraumschiff transportiert jüdische Passagiere in neue Lebenswelten im All

Generationen haben sich mit Eingriffen an dem toxischen Herrschaftsungetüm abgearbeitet. Hat man den Seiteneingang genommen, bedeckt drinnen ein eher harmloses Parkett den Marmorboden, den ein Hans Haacke 1993 noch mit dem Vorschlaghammer zerschlug. Die Künstlerin Yael Bartana und der Theaterregisseur Ersan Mondtag widmen sich hier jeder auf seine Art dem Thema Migration. Die in Israel geborene, seit rund 15 Jahren in Deutschland lebende Bartana, hat bereits 2011 den polnischen Pavillon bespielt. Jetzt schaut sie in einer postapokalyptischen Arbeit aus Videoanimationen von rituellen Tänzen und Wandzeichnungen, eine Weiterführung ihres „Light to the Nations“-Projekts, in eine utopische Zukunft.                                                                                                        

Ein „Generationenraumschiff“ transportiert nach einer ökologischen Katastrophe jüdische Passagiere in neue Lebenswelten im All. Ein Aufbruch ins Ungewisse, der sich nahtlos an die Geschichte der Diaspora anschließt. Anbetracht der Antisemitismusdebatte und des Nahostkriegs besticht Bartanas, „Zukunftsbewältigung“, so die Künstlerin, natürlich auch durch eine beklemmende Aktualität. Eine eher private Perspektive hat der in Berlin-Neukölln aufgewachsene Ersan Mondtag im Sinn. Er lässt Schauspieler in einem verstaubten Einbau die Geschichte seines Großvaters erzählen, der 1968 als Gastarbeiter nach Deutschland kam, Asbest verarbeitete und vor der Rente an Krebs starb.             

Man muss sich Zeit lassen, um diese düstere Kunst auf sich wirken zu lassen. Das gilt auch für den polnischen Pavillon, der an ein ukrainisches Künstlerkollektiv „weitergereicht“ wurde, ein kurzfristiger Ersatz für den Maler Ignacy Czwartos, der noch unter der vorherigen rechten Regierung ausgewählt und im Dezember von der neuen Koalition abgewählt wurde. Er zeigt seine hasserfüllten Arbeiten unter dem Motto „Unzensiertes Polen“ direkt an der Rückwand des polnischen Pavillons, in dem Videos von Ukrainerinnen erschüttern, die den Lärm russischer Raketen nachahmen.                                                                                                     

Menschen liegen unter einer Videoprojektion mit gefilmten Pflanzen.

Eine Arbeit der israelischen Künstlerin Yael Bartana im Deutschen Pavillon für die 60. Ausgabe der Kunstbiennale.

Der österreichische Beitrag ist nicht weniger politisch, aber im Vergleich geradezu leichtfüßig. Die in Russland geborene Konzeptkünstlerin Anna Jermolaewa führt Tschaikowskis „Schwanensee" mit der jüngst geflüchteten ukrainischen Tänzerin Oksana Serheivea dreimal täglich für fünf Minuten auf. In der Sowjetunion lief der Klassiker immer dann im Staatsfernsehen, wenn politische Unruhen mit Propaganda überdeckt werden sollten. Jermolaewa deutet das Ritual um und versteht die Aufführung als Forderung zu Putins Entmachtung. Der russische Pavillon durfte diesmal immerhin wegen des Angriffskriegs nicht bespielt werden, außer von dem russlandfreundliche Bolivien.                                  

Jermolaewas eigene Migrationsgeschichte nach Österreich passt auch in das ausgegebene Biennale-Motto „Fremde überall“. In der Hauptausstellung gewährt der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa 331 Künstlerinnen und Künstlern aus dem globalen Süden eine große Bühne, darunter Lateinamerika, dem Nahen Osten, Asien und Afrika. Herkunft, Außenseiterposition, Gemeinschaft stiftendes Handwerk und sexuelle Orientierung dominieren die Auswahl. Einen Einblick in die internationale Kunstproduktion der Gegenwart bekommt man so zwar nicht, dafür aber reichlich queere und indigene Positionen, flankiert von Berichten über koloniale Entgleisungen, Ausbeutung und Massenmord.   

Parallelen zur letzten Documenta drängen sich in Venedig zu Recht auf

Parallelen zur letzten Documenta drängen sich zu Recht auf, ist doch die Fülle an anklagenden Tönen gewaltig, auch wenn die militanten Auswüchse vom Kassel erfreulicherweise vermieden werden. Pablo Delano gönnt sich gleich ein ganzes „Museum of the Old Colony“, das in Fotos und Filmen daran erinnert, dass Puerto-Ricanerinnen für die USA als Versuchskaninchen für zu hoch dosierte Antibabypillen herhalten mussten. Rassistische Touristensouvenirs treffen hier außerdem auf Aufnahmen von Donald J. Trumps katastrophal ignoranter Reaktion auf den Hurrikan Maria.

Im Arsenale begegnet man 100 Künstlerporträts des 20. Jahrhunderts jenseits der eurozentrischen Perspektive. Zu einer Frida Kahlo gesellt sich in dem „Nucleo Storico“, so nennt Pedrosa die akademisch belehrende Aufzählung, etwa die 1906 geborene Georgette Chen, singapurische Malerin und eine der Pionierinnen der dortigen Moderne. Ihre bukolischen Darstellungen des Inselstaats und seiner Bewohner und ihr kosmopolitischer Blick haben sie in ihrem Land zu einer Berühmtheit gemacht. Ähnlich Semiha Berksoy, türkischen Malerin und Opernsängerin, die im Berlin der 1930er-Jahre auftrat und im Dezember im Hamburger Bahnhof mit einer Retrospektive geehrt wird.                       

Sie wird nicht die einzige Marginalisierte bleiben, die demnächst von Venedig aus ihren Marsch durch die Kunstinstitutionen des globalen Nordens antreten wird. Die Welt mag am Abgrund stehen, aber die Lagune schenkt toten Helden und Heldinnen, die in dieser 60. Ausgabe weit präsenter als die Lebenden sind, ein Comeback - innerhalb eines die Makrotrends des letzten Jahrzehnts mit Mut zu erweiternden Perspektiven aufgreifenden Rahmens, aber auch auf dem schmalen Grat zwischen fälliger Wiedergutmachung und zum Klischee erstarrten Ritual.


„Fremde überall“, 60. Biennale di Venezia, Giardini, Arsenale. 20. April bis 24. November 2024. Der Katalog kostet 90 Euro, der Kurzführer 20 Euro.

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