Der „Spiegel“ wird 75Was hat er uns heute noch zu sagen?

Steffen Klusmann, "Spiegel"-Chefredakteur, vor dem berühmten Zitat von Rudolf Augstein ("Sagen, was ist".)
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Hamburg – Besonders schmeichelhaft ist das „Spiegel“-Cover aus dem Jahr 1976 nun wirklich nicht. Helmut Kohl, damals Herausforderer um das Amt des Bundeskanzlers, karikiert in Birnen-Form. Ein Interview auf diese Weise anzukündigen, ist nicht sehr freundlich. Und Kohl und das Nachrichtenmagazin wurden dann auch keine Freunde mehr. In seiner Zeit als Kanzler gab der CDU-Politiker dem „Spiegel“ kein einziges Interview.
An Selbstbewusstsein mangelt es nicht
Mit den Mächtigen des Landes hat sich das Hamburger Wochenmagazin, das in dieser Woche vor 75 Jahren zum ersten Mal erschien, schon immer gerne angelegt. Als „Sturmgeschütz der Demokratie“ bezeichnete es Gründer Rudolf Augstein gerne vollmundig. Mangelndes Selbstbewusstsein war eben noch nie das Problem der Hamburger Journalisten.
Doch der „Spiegel“ ließ den Worten auch oft Taten folgen. „Bedingt abwehrbereit“ hieß eine Geschichte im Jahr 1962, die eine Regierungskrise auslöste. Ein Nato-Testmanöver sollte überprüfen, wie abwehrbereit die Bundeswehr und wie funktionsfähig Führungsstäbe und Notstandsplanung im Fall eines Angriffs auf den Westen waren. „Der Spiegel“ berichtete über das verheerende Ergebnis und nutzte dazu auch Bundeswehr-Interna.
Augstein in Untersuchungshaft
Wegen des Verdachts des Verrats von Staatsgeheimnissen drang die Polizei in die Redaktionsräume ein, es folgten Durchsuchungen. „Spiegel“-Herausgeber Augstein und ein Kollege wurden verhaftet, saßen mehr als 100 Tage in Untersuchungshaft. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) verlor sein Amt.
Die „Spiegel-Affäre“ löste eine Debatte über Pressefreiheit aus, Demonstranten zogen mit Plakaten durch die Straßen, auf denen „Spiegel tot, die Freiheit tot“ zu lesen war.
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Für den „Spiegel“ war die Bewährungsprobe die beste Werbung, danach galt er als das Zentrum investigativer Recherchen in Deutschland. Und es folgten viele weitere große Geschichten. Ob 1982 die Flick- und Neue-Heimat-Affäre oder 1987 die Barschel-Affäre – der „Spiegel“ deckte häufig auf, was die Mächtigen gerne unter Verschluss gehalten hätten.
Noch immer Opposition
Auch heute noch geht es laut dem aktuellen Chefredakteur Steffen Klusmann darum, Opposition gegenüber den Mächtigen in Wirtschaft und Politik zu sein. Hinterfragen gehöre genauso dazu wie Missstände aufzudecken. „Das gelingt vielleicht weniger häufig, als wir das manchmal gerne hätten, aber manchmal gelingt es immer noch ganz schön gut“, sagte er jüngst dem NDR-Medienmagazin „Zapp“.
Ob die Masken-Deals von CSU-Politikern oder die Ibiza-Affäre um Heinz-Christian Strache, die das Magazin mit den Kollegen und Konkurrenten von der „Süddeutschen Zeitung “ recherchierten – der „Spiegel“ sorgt noch immer für Schlagzeilen, wenn auch nicht mehr in dem Maße, wie es ihm früher gelang. Manche Kritiker werfen ihm heute einen Hang zur Beliebigkeit und zu eher bunten Themen zu.
In der digitalen Welt muss er bestehen
Die Marke „Spiegel“ muss eben auch in der digitalen Welt bestehen. Und da ist der Hauptkonkurrent, wie Klusmann sagt, eindeutig die „Bild“-Zeitung. Es ist ein Spagat, wie ihn viele Medienmarken in Zeiten der Digitalisierung schaffen müssen. Die Leser des Magazins und die von „Spiegel.de“ haben zum Teil sehr unterschiedliche Erwartungen an die Redaktion.
„Sagen, was ist“, dieses andere berühmte Zitat von Rudolf Augstein ist im Eingangsbereich des Spiegel-Hochhauses in Hamburg zu lesen. Und die Verletzung genau dieses Mottos sorgte 2018 für den größten Skandal, den der „Spiegel“ selbst produzierte.
Claas Relotius war ein gefeierter und vielfach ausgezeichneter Reporter des Magazins. Doch dann deckte sein Kollege Juan Moreno auf, dass Relotius in diversen Texten betrogen hatte. Zum Teil hatte er sich Protagonisten einfach ausgedacht, hatte die Orte, die er beschrieb, nie bereist.
Großer Imageschaden
Der „Spiegel“ machte die Fälschungen selbst publik, aber der Imageschaden war dennoch immens. „Das hätte uns versenken können“, sagt Klusmann im Rückblick. Doch die Leser honorierten, dass der „Spiegel“ mit der investigativen Sorgfalt, die ihn einst berühmt machte und die er hier aus den Augen verloren hatte, den Fall aufarbeite.
Relotius flog raus, es gab weitere personelle Konsequenzen im Haus, das Magazin überarbeitet seine redaktionellen Standards.
Die Leser scheinen dem Magazin den Skandal verziehen zu haben. Zuletzt stiegen die Abo-Zahlen wieder, besonders das digitale Bezahlangebot „Spiegel+“ legte deutlich zu. In der Sparte Abonnement hat das Digitalangebot aktuell einen Anteil von gut 30 Prozent.
Insgesamt wurde die Marke „Spiegel“ nach Angaben des Verlags noch nie von so vielen Menschen genutzt wie heute. Jede Woche erreiche er 16,8 Millionen Menschen mit der Printausgabe und den digitalen Angeboten.
Früher war also längst nicht alles besser. Dafür reicht auch ein Blick auf die „Spiegel“-Cover durch die Jahrzehnte. Da finden sich sexistische, homophobe und rassistische Gestaltungen, die heute zum Glück völlig undenkbar wären. Mit Titelbildern sorgt der „Spiegel“ aber auch heute noch für Aufsehen, etwa als er 2017 Donald Trump mit dem abgeschlagenen Kopf der Freiheitsstatue in der Hand abbildete.
Aufmerksamkeit verschafft sich das Nachrichtenmagazin auch 75 Jahre nach seiner Gründung mühelos.