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Anne Teresa De Keersmaeker in KölnHeute Abend tanzt die weltberühmte Choreografin selbst

Lesezeit 3 Minuten
Die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker tanzt „The Goldberg Variations, BMV 988“ in Köln. Den linken Arm hält sie ausgestreckt, mit der Handinnenfläche nach oben, den rechten Arm hat sie angewinkelt.

Anne Teresa De Keersmaeker tanzt „The Goldberg Variations, BMV 988“ in Köln

Die belgische Star-Choreografin gastierte im Rahmen von Tanz Köln im Mülheimer Depot.

Vielleicht sind alle Stücke eines Choreografen, einer Choreografin nur Variationen ein- und desselben Stücks? Vielleicht setzt die individuelle Kreativität einen Grundton, der Rest ist mehr oder weniger deutliche Wiederholung? In Phasen der Selbstzweifel mag so manchen Künstler, manche Künstlerin dieser Gedanke beschleichen, und auch Anne Teresa De Keersmaeker umspielt ihn, wenn sie eine Choreografie schafft, die unübersehbar Leitmotive ihrer Bewegungskunst aufgreift. Wobei: Die Betonung muss wohl auf „umspielt“ liegen, denn im ostentativen Gestus ihrer Selbstzitiererei liegt viel Ironie.

„The Goldberg Variations, BMV 988“ heißt ihr 2020 entstandenes Solo. Typisch De Keersmaeker, die Nummer des Bach-Werke-Verzeichnisses pedantisch mit in den Titel aufzunehmen - Ordnungskategorien liegen ihr. Es ist Lockdown-Kunst. Entstanden also, als jeder von uns in Phasen ganz auf sich zurückgeworfen war, von Erinnerungen zehrte, Bilanz ziehen konnte.

Und so scheint auch Anne Teresa De Keersmaeker durch ihr Werk gecruised zu sein und Bewegungen, die ein jüngeres Ich entworfen hatte, mit ihrem damals 60-jährigen Körper wieder anprobiert zu haben. Die berühmte Pendel-Sequenz mit schnellen halben Drehungen bei gleichzeitig schwingenden Armen und Beinen aus ihrer Choreografie „Fase“ etwa, die früher so scharf und präzise wie ein Uhrwerk war: Heute schleicht sich jedes Mal ein kleiner Wackler in die Mechanik ein, das Pendel hakt ein bisschen, da mag ein Körper noch so fantastisch durchtrainiert sein wie der von Anne Teresa De Keersmaeker. Eine „Variation“, die die Vergänglichkeit in eines ihrer choreografisch doch unvergänglichen Gold-Stücke einschreibt.

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Je einfacher, desto komplexer: Darauf beruht Anne Teresa De Keersmaekers Ruhm

So mag man interpretieren und spürt doch: Diese Idee ist nur eine unter vielen in diesem zwei Stunden langen Solo, die die Choreografin assoziativ aufgreift. Je einfacher die Setzungen, desto komplexer Anne Teresa De Keersmaekers Kunst. Das war schon immer so bei dieser Choreografin, auf ihrem intellektuellen Reichtum beruht ihr Weltruhm.

Und eigentlich sind diese „Goldberg Variationen“ auch gar kein Solo: Der Pianist Pavel Kolesnikov sitzt mit auf der Bühne, wenngleich mit dem Rücken zum Publikum, als spiele er eben nicht für uns, sondern nur für sie. Ein Haufen zerknüllter Rettungsfolie am Bühnenrand glitzert wie ein gigantisches Goldnugget. Die andere Bühnenseite begrenzt eine Wand mit zerknautschter Silberfolie, wie eine Raummetapher für die verzerrte Selbstbespiegelung. Immer wieder krallt De Keersmaeker die Hände in den geöffneten Flügel, stößt sich von ihm weg, als hätte die Musik ihr einen neuen Energieschub gegeben.

Und dann folgt ihr Körper wieder intuitiv den vertrauten De-Keersmaeker-Mustern, zerschneidet feminine Bewegungs-Softness mit Überraschungs-Attacken, skizziert mit den nackten Füßen geometrische Architekturen auf den Boden, an die selbst Bach nie gedacht haben mag, und lässt auch schon mal spöttisch ein paar Triller und Klavier-Fingerläufe durch ihren Körper schauern. Am Ende schnörkelt sie ganz zart ihre Hand nach oben, ein letzter Ton, eine letzte Geste gen Himmel,  wie eine Frage: Ist da wirklich was, für das der Mensch so viel Schönheit schafft?

Nächste Vorstellung bei Tanz Köln: Uraufführung von „Ballet of (Dis)Obedience von Richard Siegal und dem Ballet of Difference am 24.-26. März sowie im April im Depot 1

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