BerlinaleIst das Festival ein gefährliches Spiel mit dem Risiko?

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Der Berlinale-Bär trägt Maske

Berlin – Oft sind es eher Momentaufnahmen als große Reden, die man mit Politikern verbindet. Wenn ich an Claudia Roth denke, fällt mir eine ausklingende Berlinale-Eröffnung ein. Sie überließ mir Unbekanntem lächelnd das Taxi, auf das sie offensichtlich gewartet hatte - weil sie es einfach nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen. Man sah ihr an, dass sie die Party wirklich genossen hatte und einfach noch etwas nachwirken lassen wollte.

Jetzt könnte sie sich als neue Kulturstaatsministerin zur gleichen Party einladen - nur findet die leider nicht statt. Die 72. Berliner Filmfestspiele präsentieren sich als offiziell feierfreie Zone, auch wenn der rote Teppich zur heutigen Eröffnung wie gewohnt am Potsdamer Platz liegt. Claudia Roth sieht in der Präsenz-Veranstaltung ohne Online-Angebote ein „Zeichen des Optimismus, der Hoffnung und der Ermutigung“, so wird sie von dpa zitiert. „Wir lassen sie uns nicht wegnehmen. Ganz im Gegenteil, wir setzen ein Zeichen für die Kultur, für das Kino, für den Film und für all diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten, die Kreativen und all die Menschen hinter den Kulissen.“

Mehrere Medien forderten die Absage der Berlinale

Tatsächlich forderten in den letzten Tagen Kommentare mehrerer Medien eine Absage der Filmfestspiele wegen eines unbeherrschbaren Infektionsgeschehens. „Wir haben Gründe das Risiko einzugehen“, rechtfertigte sich das Leitungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian in der „Berliner Zeitung“. Nur gehen sie das Risko ja nicht nur persönlich ein. Sie muten es auch anderen zu, insbesondere Journalisten, die auf engstem Raum zusammentreffen müssen.

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Auf den offiziellen Berlinale-Plakaten wirbt ein Bär mit Heftpflaster für das Impfen (Ungeimpfte haben keinen Zutritt). Doch auch Geimpfte müssen in ihrer Sorge vor den Folgen einer Infektion ernstgenommen werden, die Durchseuchung Berlins darf nicht stillschweigend Corona-politisches Programm werden. Und welche Rolle spielt das – nach der documenta - populärste deutsche Kulturereignis dabei? Vorsicht ist geboten, wann immer Kultur für etwas anderes als ihre eigenen Inhalte instrumentalisiert wird. Und die stehen, was diese Berlinale angeht, bereits jetzt im Schatten von Corona. Wird es dem Programm gelingen, die leidigen Begleitumstände seiner Präsentation vergessen zu lassen?

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Vielleicht schon heute Abend: Der Franzose François Ozon, einer der populärsten Autorenfilmer seiner Generation, zeigt seine Tragikomödie „Peter von Kant“. Vor 22 Jahren hatte der 54-jährige auf der Berlinale seine Verfilmung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Tropfen auf heiße Steine“ präsentiert. Nun hat er einen Klassiker des bewunderten Deutschen auf eine männliche Titelfigur umgeschrieben. Aus der lesbischen ist eine schwule Beziehungsgeschichte um das missbräuchliche Liebesleben eines Regisseurs (Denis Ménochet) geworden. Dennoch dürften es zwei weibliche Altstars sein, die – wenn sie denn kommen – echten Premierenzauber versprechen: Isabelle Adjani und Hanna Schygulla.

Auch in verblasstem Ruhm kann man sich sonnen, jedenfalls in der neuesten pechschwarzen Farce des Österreichers Ulrich Seidl. Ein ehemaliger Schlagerstar finanziert da sein Leben mit armseligen Auftritten, Spielort ist unter anderem das titelgebende, winterliche „Rimini“.

Auf dem Papier steht der Gewinner beinahe fest

Es gibt nicht allzu viele weltbekannte Filmschaffende in diesem Festivaljahrgang. Darunter ist immerhin mit der Französin Claire Denis eine der besten. Juliette Binoche spielt die Hauptrolle in der Dreiecksgeschichte „Both Sides of the Blade“. Neugier wecken auch die beiden deutschen Beiträge: „AEIOU – Das schnelle Alphabet der Liebe“ heißt die neue Regiearbeit von Nicolette Krebitz über die ungleiche Annäherung zwischen einer ehemaligen Schauspielerin und einem jungen Taschendieb. Von Andreas Dresen schließlich, dessen Filme eigentlich nie enttäuschen, darf man ein politisch wie emotional bewegendes Drama erhoffen: Sein Gerichtsfilm „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ stellt die Mutter des zu Unrecht nach Guantanamo verschleppten Murat Kurnaz in den Mittelpunkt.

Auf dem Papier klingt das bereits nach einem potentiellen Gewinner, doch wer weiß ob der diesjährige Jury-Präsident die traditionelle Berlinale-Liebe zum politischen Kino teilt: Mit Hollywoodregisseur M. Night Shyamalan hat man ausgerechnet einen Meister des hier so seltenen phantastischen Kinos an die Spree geflogen. Um seine Präferenzen in diesem gänzlich Hollywood-freien Wettbwerb zu erraten, brauchte man schon einen „Sixth Sense“.

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